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Der Text, der Leser und das Lesen bei Umberto Eco

von Matthias Agethen

Umberto Ecos Texte fordern den "Lector Doctus". In der Bibliothek. Buchillustration aus dem 15. Jahrhundert, Musee Condé, Chantilly. Urheber unbekannt.
Umberto Ecos Texte fordern den "Lector Doctus". In der Bibliothek. Buchillustration aus dem 15. Jahrhundert, Musee Condé, Chantilly. Urheber unbekannt.

Im Folgenden werden jene Gedanken weitergeführt, die bereits im Text „Eco – auch ein Literaturtheoretiker“ aufgenommen wurden.

 

   

Text 

Wie in „Eco – auch ein Literaturtheoretiker“ behauptet, kann der empirische Autor im poetologischen Denken Umberto Ecos für die Erschließung von Sinn in literarischen Texten nicht dienlich sein. Der exemplarische Autor ist nur noch dem Namen nach ein Autor. Verantwortlich für Sinn und Bedeutung ist demnach der Text selbst:


Das Seelenleben des empirischen Autors ist gewiss unergründlicher als seine Texte. Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verlässliches als einen Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können. (294)

 

Eco zufolge ist der geschriebene Text also die einzige verlässliche Konstante, wenn es darum geht, seinen Sinn zu erschließen. Der Text führt ein „Eigenleben“ (291), der Autor hat keine Verfügungsgewalt über die Bedeutung des Textes. Egal, ob der Autor einen bestimmten Sinn erzeugen wollte oder nicht: Falls der Text selbst, seine eigene „Textstrategie“ (293), eine bestimmte Interpretation stützt, d.h. wenn es objektivierbare Anhaltspunkte im Text selbst für eine bestimmte Deutung gibt, kann diese nicht widerlegt werden, schon gar nicht vom Autor selbst: Der Text ist mächtiger als sein Autor. Die Intention des Textes, die intentio operis, lässt sich von der Strategie des Textes ableiten: Wie ist der Text gemacht? Wie ist er sprachlich beschaffen? Wie sind histoire-Ebene und discours-Ebene beschaffen? Welche rhythmischen und klangästhetischen Elemente enthält er? An dieser Stelle strukturalistischen Denkweisen verpflichtet, meint Eco, die Textstrategie lasse sich anhand von linguistischen Methoden (vgl. 293) ermitteln und überprüfen. Neben der Prüfung der Textstrategie sei es jedoch unerlässlich, den Text aus seiner Zeit heraus zu verstehen, so Eco. Sprache ist historisch, veränderbar und wandelt sich ständig. Bedeutungen können sich verengen, erweitern und verschieben. (Vgl. 280) Um einen Text also zu verstehen, um ihn ernsthaft zu interpretieren, muss der Leser seinen [d.i. den des Textes] „kulturellen und sprachlichen Hintergrund anerkennen.“ (280) Zwar ist der Text semantisch von seinem Autor autonom, doch sprachlich und lexikalisch kann er sich nicht aus seiner Zeit lösen. Interpretationen, die diesem Umstand nicht Rechnung tragen, müssen also scheitern, so Eco. Eco führt ein Beispiel an: Sicherlich sei es sinnvoll, in mittelalterlichen und antiken Texten nach Akrosticha zu suchen, da es während dieser Epochen durchaus gebräuchlich war, durch ein Akrostichon Sinn zu erzeugen und diesen nur dem intensiven Leser über Hindernisse und Verschlüsselungen aufzuschließen. In anderen Epochen jedoch sei das Auftreten von bewusst gesuchten Akrosticha sicherlich kein Hinweis auf versteckten Sinn und Bedeutung, sondern lediglich ein Produkt des Zufalls oder der alphabetischen Wahrscheinlichkeit. (Vgl. 283) Wird dieser ‚background’ des Textes berücksichtigt, liefert er dem Interpreten alle nötigen Hinweise auf mögliche Bedeutungen. „Die transparente Textintention, an der unhaltbare Interpretationen scheitern“ (287) müssen, erschließt sich dem Kritiker über den Nachvollzug der Textstrategie, über das Verstehen der Art und Weise, wie der Text gemacht ist, und unter Berücksichtigung seines historisch-kulturellen Hintergrundes. „Transparent“ ist die Textintention genau dann, wenn der Text gewisse Zusammenhänge selbst erklärt, wenn Bezüge eindeutig herzustellen sind. Eco führt als Beispiel an, dass in seinem Roman der „Name der Rose“ zahlreiche Anspielungen auf Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“[1] zu finden seien. Er selbst habe das nicht intendiert, ihm seien diese Zusammenhänge und Assoziationen beim Schreiben nicht bewusst gewesen. Doch er bescheinigt, „dass der Text selbst den Zusammenhang stützt.“ (288) Doyles Roman wird somit zum unvermeidlichen Prätext; gelungene Interpretationen müssen dieses Faktum anerkennen, weil der Text dieses Verhältnis zwischen Prätext und Text impliziert. Der Textsinn erschließt sich somit erst unter Beachtung dessen, was der Autor überhaupt nicht im Sinn oder im Blick hatte.

     Die einzige Rechtfertigung für eine Deutung kann nur der Text selbst sein: „Freie, semantische Assoziationen“ können nicht ausgeschlossen werden, solange die „Wörter sie [d.i. die Assoziationen] zu rechtfertigen scheinen“ (288). Daraus folgt: Solange der Sinn durch die Schrift bzw. den Text gestützt wird, bedarf es keiner textexternen Institution (Autor, Kritiker, Politik, Religion), die eine Deutung im Sinne der Textintention legitimieren müsste. Der Text behält sein Recht, dazu will Eco ihm verhelfen. (Vgl. 293) Ecos Textbegriff – und damit auch die Idee vom exemplarischen Autor – ist damit umhaucht von einer Aura des Mysteriösen: Ecos Thesen hinterlassen – ganz bewusst und kalkuliert – einen unentschlüsselbaren Rest: Eben die Frage nach der Verantwortlichkeit, die Frage danach, wer oder was eigentlich für das Literarische im Text verantwortlich sei: wie entsteht Ecos „Textstrategie“, wie entsteht Literarizität? Eco scheint diese Verantwortlichkeit für die Kunst des Textes an eine übersinnliche, metaphysische Instanz delegieren zu wollen: Der literarische Texte wird zur rätselhaften, ja unergründbar-göttlichen Offenbarung stilisiert und damit in die Sphäre des Metaphysischen überführt.    

 

Lesen 

Auch nimmt Eco eine Zweiteilung in Bezug auf den Leser vor: Auch hier unterscheidet er zwischen empirischem Leser und exemplarischem Leser. Der empirische Leser sei ein Rezipient des Textes, der bei und mit der Lektüre eigene Absichten verfolge. Er gebraucht (vgl. 280) den Text, etwa um sich „inspirieren zu lassen“ (280), um sich daran zu erfreuen oder ihn womöglich politisch zu instrumentalisieren. Der empirische Leser fragt nicht ‚Was bedeutet der Text?’, vielmehr fragt er danach, was der Text für ihn bedeutet. Das Anerkennen des Textes und seiner kulturellen und historischen Implikationen ist dann nicht mehr gegeben, die Deutung muss fehlgehen.

     Dem empirischen Leser steht der exemplarische Leser gegenüber. Dieser – in den Worten Ecos – „kluge, verantwortliche Leser“ (280) erfasst den Text mit Berücksichtigung seines historischen Hintergrundes und kann somit zu guten Interpretationsergebnissen kommen. Er gebraucht den Text nicht, vielmehr interpretiert er ihn (Vgl. 280), d.h. er verfolgt eben keine „rein persönliche[n] Ziele“ (280), wie es der empirische Leser tut. Eco erhebt jedoch gewisse Forderungen, die an den exemplarischen Leser gerichtet sind: Er muss über einen „sozialen Schatz“ (279) verfügen, über ein enzyklopädisches Wissen (vgl. 279 f.), auf dessen Basis er sich dem zu deutenden Text nähern kann. Anders ausgedrückt heißt das: Nur der klassisch Gebildete, der lector doctus, kann sich sinnvoll mit Literatur beschäftigen.[2] Lesen wird dann zu „eine[r] komplex[en] Interaktionsstrategie“ (279) zwischen dem Leser, seinem „Weltwissen“ (280) und dem Text mit seiner eigenen Strategie. Dabei kann es zu zum Teil stark variierenden Deutungsergebnissen und Lesarten kommen. Das Urteil über richtig oder falsch der Deutung fällt der Text selbst: Stützt der Text die Thesen des Kritikers, oder weist er diese zurück? Projiziert der Kritiker seine eigenen Intentionen – in der Rolle des empirischen Lesers – in die Interpretation, oder wird er dem Text – als exemplarischer Leser – gerecht, indem er seinen historisch-lexikalischen Stand anerkennt? Letztlich ist es dann schwierig, eine plausible Deutung, die der Text stützt, als wahr bzw. falsch zu bezeichnen. Entscheidend ist dann eben nicht unbedingt das Ergebnis, sondern eher der Grad der Nachweisbarkeit der Interpretationsargumente im und am Text. Somit kann zwar nicht über richtig oder falsch geurteilt werden, jedoch ist es möglich, qualitative Unterschiede zu machen: Eine Interpretation kann besser und sinnvoller sein als eine andere, und zwar genau dann, wenn der Interpret den Text in der Besonderheit seiner historischen Entstehungsumstände erfasst und seine Thesen vom Text selbst gestützt werden.

     Der (exemplarische) Leser ist es also, der in eine Art Interaktion mit dem Text tritt und in einem „komplexen Austausch“ (281) mit dem Text, ihm seinen Sinn und seine Bedeutungen entnehmen kann. Der Autor hat im Prozess dieses Austauschs, dieser Interaktion, zwischen exemplarischem Leser und Text kein Mitspracherecht mehr: „der [...] Autor muss schweigen.“ (287)

 

[1] Doyle, Sherlock Holmes.

[2] Nebenbei sei auf den befremdlichen Elitarismus dieses Gedankens hingewiesen.

 

Matthias Agethen studiert Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


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Kommentare: 1
  • #1

    Nino (Mittwoch, 05 Dezember 2012 22:15)

    Danke für die leicht verständliche Erklärung/Analyse von Ecos Text!