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Wilhelm Scherer über den Literaturbetrieb und seinen Einfluss auf die Literatur

von Michael Buchmann

Wilhelm Scherer
Wilhelm Scherer

Wilhelm Scherer wurde 1877 zum ersten Inhaber eines Lehrstuhls für „Neuere deutsche Literaturgeschichte“. Sein germanistisches Credo war folgendes: „Den Entstehungsproceß des Werkes in der Seele des Autors erforschen: die höchste Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation.“ Es sei betont, dass hier von Erforschen und nicht wie bei anderen Germanisten dieser und auch späterer Zeit von Nachfühlen die Rede ist. Viele seiner Zeitgenossen sprachen vielmehr in pseudoreligiösen Begriffen von „Tempeldienst“ (Emil Ermatinger) oder „Heiligtum der Dichtung“; und Dilthey schrieb im selben Jahr 1877 in „Das Erlebnis und die Dichtung“: „[Der Dichter weicht] in einem weit höheren Grade von allen anderen Klassen von Menschen ab, als man anzunehmen geneigt ist.“ Statt dessen versuchte Scherer, möglichst umfassend diejenigen äußeren Faktoren darzustellen, die den Schriftsteller in seiner Produktion determinieren und gelangte so zwangsläufig auch zu den bestimmenden Faktoren des Literaturbetriebs.

 

Scherer zählt in seiner Poetik, die im Jahr 1888 posthum erschien und aus Mitschriften im Sommersemester 1885 komipilert wurde, verschiedene Sparten des Buchhandels auf: die Sortimenter, die Verleger und die Feuilletons. „Dazu kommen dann noch weitere Factoren, z. B. in Deutschland die Leihbibliothek. Alle diese Factoren wirken auf die poetische Production ein; sie tragen dazu bei den Preis zu bestimmen, sie stehen in Concurrenz und werben um das Publicum.“ Die Leihbibliotheken entschieden mit der Frage nach einer Anschaffung bereits mit über Erfolg oder Misserfolg; ein Buch, das zur damaligen Zeit in keiner Leihbibliothek vorhanden war, konnte nicht erfolgreich werden, weil die Leihbibliotheken damals eine unheimlich wichtige Institution zur Verbreitung von Literatur waren und – zumindest was die Belletristik betrifft – ungleich stärker genutzt wurden als heute die öffentlichen Bibliotheken. Seine Konsequenz führte Scherer bei der Suche nach bedingenden Faktoren neben den Institutionen zu weiteren Entdeckungen: nämlich der von der gewichtigen Bedeutung des Publikums; und man muss deutlich betonen, dass Scherer nicht etwa nur davon ausgeht, dass der Erfolg oder Misserfolg eines Textes vom Publikum abhängt, sondern dass bereits die Ausrichtung eines Textes auf ein Publikum notwendig ist und dass ein Text sogar nur vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten Publikums möglich sein kann: „Die Verschiedenheiten des Publicums müssen nothwendig auf die Production einwirken. [...] Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, darauf zu achten, welche Nuancen des Publicums in der Litteraturgeschichte auftreten. Das Publicum arbeitet sehr stark mit.“ Außerdem stieß er auf den für den Literaturbetrieb konstitutiven Mechanismus des ständig neuen und dessen wirksame Ankündigung. „Es ist also sehr wichtig, daß Dinge richtig angekündigt werden. Ein Buch drängt sich uns nicht auf; wir müssen angelockt werden. Bei stofflichem Interesse gefällt nur das Neue; wird daher ein Buch als neu angekündigt, so liegt darin eine Verführung. […] Die Ankündigung ist in der Regel der Titel. Seine Wahl ist wichtig: das Publicum muß auf den richtigen Standpunct gestellt werden, damit keine Enttäuschung eintritt […].“ So kommt Scherer schließlich zu dem Schluss: „Es herrscht heut auf dem litterarischem Gebiet eine entschieden demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem Wahlrecht. […] Wie anders die Zeiten, in denen die Dichter keine anderen Rücksichten kannten als auf den einen Mäcen, oder auf einen Freundeskreis! Der frühere Dichter mußte nur Einem schmeicheln, um zu gefallen, der heutige Dichter muß dem ganzen Publicum schmeicheln.“

 

Überhaupt wird Literatur von Scherer in seiner Poetik wie selbstverständlich auch mit ökonomischen Begriffen beschrieben; tatsächlich hatte er bereits während seines Studiums besonderes Interesse nicht nur für die Disziplin der „deutschen Philologie“ gezeigt, für die er eigentlich eingeschrieben war, sondern auch für Ökonomie, insbesondere diejenige Wilhelm Roschers. Roscher hatte seinerseits versucht, mit Hilfe der historischen Methode Gesetzmäßigkeiten der Nationalökonomie abzuleiten. Einer der Lehrer Wilhelm Roschers war Georg Gottfried Gervinus. Das erklärte Ziel dessen fünfbändiger Literaturgeschichte war es, "durch die scheinbar chaotische Mannigfaltigkeit aus der Ferne ein Gesetz der Etwicklung blicken zu lassen". Heinzel schreibt am 08.09.1859 an den damaligen Studenten Scherer: „Vielleicht würden Sie dann etwas weniger Nationaloekonomische u. kulturhistorische Betrachtungen anstellen.“ Scherer geht an anderer Stelle sogar soweit, den literarischen Geschmack der Österreicher auf deren Verhältnis zu finanziell-ökonomischen Fragen zurück zu führen und spricht von den ökonomischen Interessen als der „elementarste[n] Form des Verhältnisses zu den großen Lebensinteressen überhaupt.“ Was folgt daraus laut Scherer für die Literatur? Der Dichter schreibt, weil er sich dadurch Vorteile erhofft. Ruhm ist der eine, materielle Begünstigung aber der wichtigste. Aus dieser Beobachtung leitet er sofort zweierlei ab: die Literatur ist eine Ware, und war dies schon, seit sich Schriftsteller einen materiellen Vorteil von ihren Texten erhoffen. Dadurch, dass Literatur eine Ware ist, folgt für Scherer weiter, dass sie nicht nur einen „idealen Werth“ besitzt, den er im übrigen durch den materiellen nicht geschmälert sehen möchte, sondern auch einen „nationalökonomischen Werth, Tauschwerth“. Literatur ist also eine Ware, die zweierlei Bewertungsmaßstäben unterworfen ist.

 

Ökonomische und politische Rahmenbedingungen nehmen aber keinesfalls nur auf fiktionale Texte Einfluss; Wilhelm Scherers pro-preußische und großdeutsche politische Haltung veranlasste ihn dazu, eine Professur im besetzten Straßburg anzutreten, um den dortigen deutschen Einfluss zu verstärken. Dazu sollte auch eine Auftragsarbeit von ihm beitragen. Er richtete ein Elsassbuch gezielt an der damals aktuellen politischen Debatte aus und fügte dem Text noch Handlungsvorschläge für die Politik hinzu. Scherer schreibt dazu am 26.10.1870 an Joseph Maria Wagner: „Zum ersten mal in meinem leben u hoffentlich auch zum letzten mal schreibe ich ein buch oder büchlein auf Bestellung zu bestimmter zeit.“

 

Literatur

  • Backhaus, J. G.: Wilhelm Roscher and the „historical method“ in the social sciences. Critical observations for a contemporary evaluation, in: Journal of Economic Studies, Nr. 3/4/5 (1995), S. 106-126.
  • Rieter, Heinz: Historische Schulen, in: Otmar Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie, 4. überarbeitete und ergänzte Aufl., München 2002, S. 131-168.
  • Roscher, Wilhelm: Roscher, Wilhelm: System der Volkswirthschaft. Ein Hand= und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Bd. 1: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart/Tübingen 1854.
  • Scherer, Wilhelm: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, Tübingen 1977.
  • Shionoya, Y. (Hg.): The German Historical School. The historical and ethical approach to economics, London/New York 2001.
  • Sternsdorff, Jürgen: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1979.
  • Streissler, E. W.: Wilhelm Roscher als führender Wirtschaftstheoretiker, in: B. Schefold (Hg.): Vademecum zu einem Klassiker der Historischen Schule, Düsseldorf 1994, S. 37-121.

 


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