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Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934

Il s'agit de gagner les intellectuels à la classe ouvrière, en leur faisant prendre conscience de l'identité de leurs démarches spirituelles et de leurs conditions de producteur.

Ramon Fernandez

 

Sie erinnern sich, wie Plato im Entwurf seines Staats mit den Dichtern verfährt. Er versagt ihnen im Interesse des Gemeinwesens den Aufenthalt drinnen. Er hatte einen hohen Begriff von der Macht der Dichtung. Aber er hielt sie für schädlich, für überflüssig - in einem vollendeten Gemeinswesen, wohlverstanden. Die Frage nach dem Existenzrecht des Dichters ist seitdem nicht oft mit dem gleichen Nachdruck gestellt worden; heut aber stellt sie sich. Sie stellt sich wohl nur selten in dieser Form. Aber Ihnen allen ist sie mehr oder weniger geläufig als die Frage nach der Autonomie des Dichters: seiner Freiheit zu dichten, was er eben wolle. Sie sind nicht geneigt, ihm diese Autonomie zuzubilligen. Sie glauben, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Lage ihn zur Entscheidung nötigt, in wessen Dienste er seine Aktivität stellen will. Der bürgerliche Unterhaltungsschriftsteller erkennt diese Alternative nicht an. Sie weisen ihm nach, daß er, ohne es zuzugeben, im Dienste bestimmter Klasseninteressen arbeitet. Ein fortgeschrittenerer Typus des Schriftstellers erkennt diese Alternative an. Seine Entscheidung erfolgt auf der Grundlage des Klassenkampfes, indem er sich auf die Seite des Proletariats stellt. Da ist's denn nun mit seiner Autonomie aus. Er richtet seine Tätigkeit nach dem, was für das Proletariat im Klassenkampf nützlich ist. Man pflegt zu sagen, er verfolgt eine Tendenz.

 

Da haben Sie das Stichwort, um das herum seit langem sich eine Debatte bewegt, die Ihnen vertraut ist. Sie ist Ihnen vertraut, darum wissen Sie auch, wie unfruchtbar sie verlaufen ist. Sie ist nämlich nicht von dem langweiligen Einerseits-Andererseits losgekommen: einerseits hat man von der Leistung des Dichters die richtige Tendenz zu verlangen, andererseits ist man berechtigt, von dieser Leistung Qualität zu erwarten. Diese Formel ist natürlich solange unbefriedigend, als man nicht einsieht, welcher Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren Tendenz und Qualität eigentlich besteht. Natürlich kann man den Zusammenhang dekretieren. Man kann erklären: ein Werk, das die richtige Tendenz aufweist, braucht keine weitere Qualität aufzuweisen. Man kann auch dekretieren: ein Werk, das die richtige Tendenz aufweist, muß notwendig jede sonstige Qualität aufweisen.

 

Diese zweite Formulierung ist nicht uninteressant, mehr: sie ist richtig. Ich mache sie mir zu eigen. Indem ich das aber tue, lehne ich es ab, sie zu dekretieren. Diese Behauptung muß bewiesen werden. Und es ist der Versuch dieses Beweises, für den ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme. - Das ist, werden Sie vielleicht einwenden, ein recht spezielles, ja ein entlegenes Thema. Und wollen Sie mit einem solchen Beweis das Studium des Fascismus befördern? - Das habe ich in der Tat vor. Denn ich hoffe, Ihnen zeigen zu können, daß der Begriff der Tendenz in der summarischen Form, in der er in der soeben erwähnten Debatte sich meistens findet, ein vollkommen untaugliches Instrument der politischen Literaturkritik ist. Zeigen möchte ich Ihnen, daß die Tendenz einer Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt. Das heißt, daß die politisch richtige Tendenz eine literarische Tendenz einschließt. Und, um das gleich hinzuzufügen: diese literarische Tendenz, die implicit oder explicit in jeder richtigen politischen Tendenz enthalten ist - die und nichts anderes macht die Qualität des Werks. Darum also schließt die richtige politische Tendenz eines Werkes seine literarische Qualität ein, weil sie seine literarische Tendenz einschließt.

 

Diese Behauptung, das hoffe ich, Ihnen versprechen zu dürfen, wird in Bälde deutlicher werden. Für den Augenblick schalte ich ein, daß ich für meine Betrachtung auch einen anderen Ausgangspunkt wählen konnte. Ich ging aus von der unfruchtbaren Debatte, in welchem Verhältnis Tendenz und Qualität der Dichtung stehen. Ich hätte von einer noch älteren aber nicht weniger unfruchtbaren Debatte ausgehen können: in welchem Verhältnis stehen Form und Inhalt und zwar insbesondere in der politischen Dichtung. Diese Fragestellung ist verschrien; mit Recht. Sie gilt als Schulfall für den Versuch, undialektisch mit Schablonen an literarische Zusammenhänge heranzutreten. Gut. Aber wie sieht denn nun die dialektische Behandlung der gleichen Frage aus?

 

Die dialektische Behandlung dieser Frage, und damit komme ich zur Sache selbst, kann mit dem starren isolierten Dinge: Werk, Roman, Buch, überhaupt nichts anfangen. Sie muß es in die lebendigen gesellschaftlichen Zusammenhänge einstellen. Mit Recht erklären Sie, daß man das zu immer wiederholten Malen im Kreise unserer Freunde unternommen hat. Gewiß. Nur ist man dabei oft sogleich ins Große und damit notwendigerweise auch oft ins Vage gegangen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind, wie wir wissen, bedingt durch Produktivverhältnisse. Und wenn die materialistische Kritik an ein Werk heranging, so pflegte sie zu fragen, wie dies Werk zu den gesellschaftlichen Produktivverhältnissen der Epoche steht. Das ist eine wichtige Frage. Aber auch eine sehr schwierige. Ihre Beantwortung ist nicht immer unmißverständlich. Und ich möchte Ihnen nun eine näherliegende Frage vorschlagen. Eine Frage, die etwas bescheidener ist, etwas kürzer zielt, aber wie mir scheint, der Antwort mehr Chancen bietet. Anstatt nämlich zu fragen: wie steht ein Werk zu den Produktivverhältnissen der Epoche? ist es mit ihnen einverstanden, ist es reaktionär oder strebt es ihre Umwälzung an, ist es revolutionär? - anstelle dieser Frage oder jedenfalls vor dieser Frage möchte ich eine andere Ihnen vorschlagen. Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit anderen Worten unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke.

 

Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff genannt, der die literarischen Produkte einer unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zugänglich macht. Zugleich stellt der Begriff der Technik den dialektischen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegensatz von Form und Inhalt zu überwinden ist. Und weiterhin enthält dieser Begriff der Technik die Anweisung zur richtigen Bestimmung des Verhältnisses von Tendenz und Qualität, nach welchem wir am Anfang gefragt haben. Wenn wir also vorhin formulieren durften, daß die richtige politische Tendenz eines Werks seine literarische Qualität einschließt, weil sie seine literarische Tendenz einschließt, so bestimmen wir jetzt genauer, diese literarische Tendenz kann in einem Fortschritt oder in einem Rückschritt der literarischen Technik bestehen.

 

Es ist gewiß in Ihrem Sinne, wenn ich hier, nur scheinbar unvermittelt, in ganz konkrete literarische Verhältnisse hineinspringe. In russische. Ich möchte Ihren Blick auf Sergej Tretjakow und auf den von ihm definierten und verkörperten Typ des "operierenden" Schriftstellers lenken. Dieser operierende Schriftsteller gibt das handgreiflichste Beispiel für die funktionale Abhängigkeit, in der die richtige politische Tendenz und die fortschrittliche literarische Technik immer und unter allen Umständen stehen. Freilich nur ein Beispiel: weitere behalte ich mir vor. Tretjakow unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzugreifen. Er bestimmt sie durch die Angaben, die er über seine Tätigkeit macht. Als 1928, in der Epoche der totalen Kollektivisierung der Landwirtschaft, die Parole: "Schriftsteller in die Kolchose!" ausgegeben wurde, fuhr Tretjakow nach der Kommune "Kommunistischer Leuchtturm" und nahm dort während zweier längerer Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff: Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung von Wandzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und Wanderkinos usw. Es ist nicht erstaunlich, daß das Buch "Feld-Herrn", das Tretjakow im Anschluß an diesen Aufenthalt verfaßt hat, von erheblichem Einfluß auf die weitere Durchbildung der Kollektivwirtschaften gewesen sein soll.

 

Sie mögen Tretjakow schätzen und vielleicht doch der Meinung sein, daß sein Beispiel in diesem Zusammenhang nicht allzuviel besagen will. Die Aufgaben, denen er sich da unterzogen hat, werden Sie vielleicht einwenden, sind die eines Journalisten oder Propagandisten; mit Dichtung hat das alles nicht viel zu tun. Nun habe ich aber das Beispiel Tretjakows absichtlich herausgegriffen, um Sie darauf hinzuweisen, von einem wie umfassenden Horizont aus man die Vorstellungen von Formen oder Gattungen der Dichtung an Hand von technischen Gegebenheiten unserer heutigen Lage umdenken muß, um zu jenen Ausdrucksformen zu kommen, die für die literarischen Energien der Gegenwart den Ansatzpunkt darstellen. Nicht immer hat es in der Vergangenheit Romane gegeben, nicht immer wird es welche geben müssen; nicht immer Tragödien; nicht immer das große Epos. Nicht immer sind die Formen des Kommentars, der Übersetzung, ja selbst der sogenannten Fälschung Spielformen am Rande der Literatur gewesen, und nicht nur im philosophischen, sondern auch im dichterischen Schrifttum Arabiens oder Chinas haben sie ihre Stelle gehabt. Nicht immer ist die Rhetorik eine belanglose Form gewesen, sondern großen Provinzen der Literatur hat sie in der Antike ihren Stempel aufgedrückt. Dies alles, um Sie mit dem Gedanken vertaut zu machen, daß wir in einem gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen mitten innestehen, einem Umschmelzungsprozeß, in dem viele Gegensätze, in welchen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verlieren könnten. Lassen Sie mich für die Unfruchtbarkeit solcher Gegensätze und für den Prozeß ihrer dialektischen Überwindung ein Beispiel geben. Und wir werden wieder bei Tretjakow stehen. Dieses Beispiel ist nämlich die Zeitung.

 

"In unserem Schrifttum, schreibt ein linksstehender Autor, sind Gegensätze, die sich in glücklicheren Epochen wechselseitig befruchteten, zu unlösbaren Antinomien geworden. So fallen Wissenschaft und Belletristik, Kritik und Produktion, Bildung und Politik beziehungslos und ungeordnet auseinander. Schauplatz dieser literarischen Verwirrung ist die Zeitung. Ihr Inhalt 'Stoff', der jeder anderen Organisationsform sich versagt als der, die ihm die Ungeduld des Lesers aufzwingt. Und diese Ungeduld ist nicht allein die des Politikers, der eine Information, oder die des Spekulanten, der einen Tip erwartet, sondern dahinter schwelt diejenige des Ausgeschlossenen, der ein Recht zu haben glaubt, selber mit seinen eigenen Interessen zu Wort zu kommen. Daß nichts den Leser so an seine Zeitung bindet, wie diese tagtäglich neue Nahrung verlangende Ungeduld, haben die Redaktionen sich längst zunutze gemacht, indem sie immer wieder neue Sparten seinen Fragen, Meinungen, Protesten eröffneten. Mit der wahllosen Assimilation von Fakten geht also Hand in Hand die gleich wahllose Assimilation von Lesern, die sich im Nu zu Mitarbeitern erhoben sehen. Darin aber verbirgt sich ein dialektisches Moment: der Untergang des Schrifttums in der bürgerlichen Presse erweist sich als die Formel seiner Wiederherstellung in der sowjetrussischen. Indem nämlich das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum, die die bürgerliche Presse auf konventionelle Art aufrechterhält, in der Sowjetpresse zu verschwinden. Der Lesende ist dort jederzeit bereit, ein Schreibender, nämlich ein Beschreibender oder auch ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverständiger - und sei es auch nicht für ein Fach, vielmehr nur für den Posten, den er versieht - gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet und so Gemeingut. Es ist mit einem Wort die Literarisierung der Lebensverhältnisse, welche der sonst unlösbaren Antinomien Herr wird, und es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes - die Zeitung also - auf welchem seine Rettung sich vorbereitet."

 

Ich hoffe, damit gezeigt zu haben, daß die Darstellung des Autors als Produzent bis auf die Presse zurückgreifen muß. Denn an der Presse, an der sowjetrussischen jedenfalls, erkennt man, daß der gewaltige Umschmelzungsprozeß, von dem ich vorhin sprach, nicht nur über konventionelle Scheidungen zwischen den Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen Forscher und Popularisator hinweggeht, sondern daß er sogar die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision unterzieht. Für diesen Prozeß ist die Presse die maßgebendste Instanz und daher muß jede Betrachtung des Autors als Produzenten bis zu ihr vorstoßen.

 

Sie kann aber hier nicht verweilen. Denn noch stellt ja die Zeitung in Westeuropa kein taugliches Produktionsinstrument in den Händen des Schriftstellers dar. Noch gehört sie dem Kapital. Da nun auf der einen Seite die Zeitung, technisch gesprochen, die wichtigste schriftstellerische Position darstellt, diese Position auf der anderen Seite aber in den Händen des Gegners ist, so kann es nicht wundernehmen, daß die Einsicht des Schriftstellers in seine gesellschaftliche Bedingtheit, in seine technischen Mittel und in seine politische Aufgabe mit den ungeheuersten Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Es gehört zu den entscheidenden Vorgängen der letzten zehn Jahre in Deutschland, daß ein beträchtlicher Teil seiner produktiven Köpfe unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse gesinnungsmäßig eine revolutionäre Entwicklung durchgemacht hat, ohne gleichzeitig imstande zu sein, seine eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, ihre Technik wirklich revolutionär zu durchdenken. Ich spreche, wie Sie sehen, von der sogenannten linken Intelligenz und werde mich dabei auf die linksbürgerliche beschränken. In Deutschland sind die maßgebenden politisch-literarischen Bewegungen des letzten Jahrzehnts von dieser linken Intelligenz ausgegangen. Ich greife zwei von ihnen heraus, den Aktivismus und die neue Sachlichkeit, um an ihrem Beispiel zu zeigen, daß die politische Tendenz, und mag sie noch so revolutionär scheinen, solange gegenrevolutionär fungiert, als der Schriftsteller nur seiner Gesinnung nach, nicht aber als Produzent seine Solidarität mit dem Proletariat erfährt.

 

Das Schlagwort, in welchem die Forderungen des Aktivismus sich zusammenfassen, heißt "Logokratie", zu deutsch Herrschaft des Geistes. Man übersetzt das gern Herrschaft der Geistigen. Tatsächlich hat sich der Begriff der Geistigen im Lager der linken Intelligenz durchgesetzt, und er beherrscht ihre politischen Manifeste von Heinrich Mann bis Döblin. Man kann es diesem Begriff mühelos anmerken, daß er ohne jede Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozeß geprägt ist. Hiller, der Theoretiker des Aktivismus, selbst will die Geistigen denn auch nicht "als Angehörige gewisser Berufszweige" sondern als "Repräsentanten eines gewissen charakterologischen Typus" verstanden wissen. Dieser charakterologische Typ steht als solcher natürlich zwischen den Klassen. Er umfaßt eine beliebige Anzahl von Privatexistenzen, ohne den mindesten Anhalt für ihre Organisierung zu bieten. Wenn Hiller seine Absage an die Parteiführer formuliert, so räumt er ihnen maches ein; sie mögen "in Wichtigem wissender sein ..., volksnäher reden ..., sich tapferer schlagen" als er, eines aber ist ihm sicher: daß sie "mangelhafter denken". Wahrscheinlich, was kann das aber helfen, da politisch nicht das private Denken sondern, wie Brecht es einmal ausgedrückt hat, die Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken, entscheidend ist. Der Aktivismus hat es unternommen, die materialistische Dialektik durch die klassenmäßig undefinierbare Größe des gesunden Menschenverstandes zu ersetzen. Seine Geistigen repräsentieren bestenfalls einen Stand. Mit anderen Worten: das Prinzip dieser Kollektivbildung an sich ist ein reaktionäres; kein Wunder, daß die Wirkung dieses Kollektivs nie eine revolutionäre sein konnte.

 

Das unheilvolle Prinzip einer solchen Kollektivbildung wirkt aber fort. Man konnte sich davon Rechenschaft ablegen, als vor drei Jahren Döblins "Wissen und Verändern!" herauskam. Diese Schrift erging bekanntlich als Antwort an einen jungen Mann - Döblin nennt ihn Herrn Hocke -, der sich an den berühmten Autor mit der Frage "Was tun?" gewandt hatte. Döblin lädt ihn ein, der Sache des Sozialismus sich anzuschließen, aber unter bedenklichen Umständen. Sozialismus, das ist nach Döblin: "Freiheit, spontaner Zusammenschluß der Menschen, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang, Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung." Wie es sich auch damit verhalte: jedenfalls macht er von diesem Sozialismus aus Front gegen Theorie und Praxis der radikalen Arbeiterbewegung. "Es kann, meint Döblin, aus keinem Ding etwas hervorgehen, was nicht schon in ihm steckt, - es kann aus dem mörderisch geschärften Klassenkampf Gerechtigkeit, aber kein Sozialismus hervorgehen." "Sie, geehrter Herr, so formuliert Döblin die Empfehlung, die er aus diesen und anderen, Gründen Herrn Hocke gibt, können Ihr prinzipielles Ja zu dem Kampf (des Proletariats) nicht exekutieren, indem Sie sich in die proletarische Front einordnen. Sie müssen es bewenden lassen bei der erregten und bitteren Billigung dieses Kampfes, aber Sie wissen auch: tun Sie mehr, so bleibt eine ungeheuer wichtige Position unbesetzt ...: die urkommunistische der menschlichen individuellen Freiheit, der spontanen Solidarität und Verbindung der Menschen ... Diese Position, geehrter Herr, ist es, die als einzige Ihnen zufällt." Hier ist es nun mit Händen zu greifen, wohin die Konzeption des "Geistigen" als eines nach seinen Meinungen, Gesinnungen oder Anlagen, nicht aber nach seiner Stellung im Produktionsprozeß definierten Typus führt. Er soll, wie es bei Döblin heißt, seinen Ort neben dem Proletariat finden. Was ist das aber für ein Ort? Der eines Gönners, eines ideologischen Mäzens. Ein unmöglicher. Und so kommen wir auf die eingangs aufgestellte These zurück: der Ort des Intellektuellen im Klassenkampf ist nur aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozeß festzustellen oder besser zu wählen.

 

Für die Veränderung von Produktionsformen und Produktionsinstrumenten im Sinne einer fortschrittlichen - daher an der Befreiung der Produktionsmittel interessierten, daher im Klassenkampf dienlichen - Intelligenz hat Brecht den Begriff der Umfunktionierung geprägt. Er hat als erster an den Intellektuellen die weittragende Forderung erhoben: den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne ihn zugleich, nach Maßgabe des Möglichen, im Sinne des Sozialismus zu verändern. "Die Publikation der 'Versuche', so leitet der Autor die gleichnamige Schriftenfolge ein, erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter haben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind." Nicht geistige Erneuerung, wie die Fascisten sie proklamieren, ist wünschenswert, sondern technische Neuerungen werden vorgeschlagen. Auf diese Neuerungen werde ich noch zurückkommen. Hier möchte ich mich mit dem Hinweis auf den entscheidenden Unterschied begnügen, der zwischen der bloßen Belieferung eines Produktionsapparates und seiner Veränderung besteht. Und ich möchte an den Anfang meiner Ausführungen über die "Neue Sachlichkeit" den Satz stellen, daß einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn - nach Maßgabe des Möglichen - zu verändern, selbst dann ein höchst anfechtbares Verfahren darstellt, wenn die Stoffe, mit denen dieser Apparat beliefert wird, revolutionärer Natur scheinen. Wir stehen nämlich der Tatsache gegenüber - für welche das vergangene Jahrzehnt in Deutschland Beweise in Fülle geliefert hat -, daß der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren, ja propagieren kann, ohne damit seinen eigenen Bestand und den Bestand der ihn besitzenden Klasse ernstlich in Frage zu stellen. Dies bleibt jedenfalls solange richtig, als er von Routiniers, und seien es auch revolutionäre Routiniers, beliefert wird. Ich definiere aber den Routinier als den Mann, der grundsätzlich darauf verzichtet, den Produktionsapparat, zugunsten des Sozialismus, der herrschenden Klasse durch Verbesserungen zu entfremden. Und ich behaupte weiter, daß ein erheblicher Teil der sogenannten linken Literatur gar keine andere gesellschaftliche Funktion besaß, als der politischen Situation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen. Damit stehe ich bei der neuen Sachlichkeit. Sie brachte die Reportage auf. Wir wollen uns fragen, wem diese Technik nützte?

 

Der Anschaulichkeit halber stelle ich ihre photographische Form in den Vordergrund. Was von ihr gilt, ist auf die literarische zu übertragen. Beide verdanken ihren außerordentlichen Aufschwung der Publikationstechnik: dem Rundfunk und der illustrierten Presse. Denken wir an den Dadaismus zurück. Die revolutionäre Stärke des Dadaismus bestand darin, die Kunst auf ihre Authentizität zu prüfen. Man stellte Stilleben aus Billetts, Garnrollen, Zigarettenstummeln zusammen, die mit malerischen Elementen verbunden waren. Man tat das Ganze in einen Rahmen. Und damit zeigte man dem Publikum: Seht, Euer Bilderrahmen sprengt die Zeit; das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens sagt mehr als die Malerei. So wie der blutige Fingerabdruck eines Mörders auf einer Buchseite mehr sagt als der Text. Von diesen revolutionären Gehalten hat sich vieles in die Photomontage hineingerettet. Sie brauchen nur an die Arbeiten von John Heartfield zu denken, dessen Technik den Buchdeckel zum politischen Instrument gemacht hat. Nun aber verfolgen Sie den Weg der Photographie weiter. Was sehen Sie? Sie wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön. "Die Welt ist schön" - das ist der Titel des bekannten Bilderbuchs von Renger-Patsch, in dem wir die neusachliche Photographie auf ihrer Höhe sehen. Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, indem sie es auf modisch-perfektionierte Weise auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen. Denn wenn es eine ökonomische Funktion der Photographie ist, Gehalte, welche früher dem Konsum der Massen sich entzogen - den Frühling, Prominente, fremde Länder - durch modische Verarbeitung ihnen zuzuführen, so ist es eine ihrer politischen, die Welt wie sie nun einmal ist von innen her - mit anderen Worten: modisch - zu erneuern.

 

Wir haben hier ein drastisches Beispiel dafür, was es heißt: einen Produktionsapparat beliefern, ohne ihn zu verändern. Ihn zu verändern hätte bedeutet, von neuem eine jener Schranken niederzulegen, einen jener Gegensätze zu überwinden, die die Produktion der Intelligenz in Fesseln legen. In diesem Fall die Schranke zwischen Schrift und Bild. Was wir vom Photographen zu verlangen haben, das ist die Fähigkeit, seiner Aufnahme diejenige Beschriftung zu geben, die sie dem modischen Verschleiß entreißt und ihr den revolutionären Gebrauchswert verleiht. Diese Forderung werden wir aber am nachdrücklichsten stellen, wenn wir - die Schriftsteller - ans Photographieren gehen. Auch hier ist also für den Autor als Produzenten der technische Fortschritt die Grundlage seines politischen. Mit anderen Worten: erst die Überwindung jener Kompetenzen im Prozeß der geistigen Produktion, welche, der bürgerlichen Auffassung zufolge, dessen Ordnung bilden, macht diese Produktion politisch tauglich; und zwar müssen die Kompetenzschranken von beiden Produktivkräften, die sie zu trennen errichtet waren, vereint gebrochen werden. Der Autor als Produzent erfährt - indem er seine Solidarität mit dem Proletariat erfährt - unmittelbar zugleich die mit gewissen anderen Produzenten, die ihm früher nicht viel zu sagen hatten. Ich sprach vom Photographen; ich will in aller Kürze ein Wort über den Musiker einschalten, das wir von Eisler haben: "Auch in der Musikentwicklung, sowohl in der Produktionals als in der Reproduktion, müssen wir einen immer stärker werdenden Prozeß der Rationalisierung erkennen lernen ... Die Schallplatte, der Tonfilm, die Musikautomaten können Spitzenleistungen der Musik ... in einer Konservenform als Ware vertreiben. Dieser Rationalisierungsprozeß hat zur Folge, daß die Musikreproduktion auf immer kleiner werdende, aber auch höher qualifizierte Spezialistengruppen beschränkt wird. Die Krise des Konzertbetriebes ist die Krise einer durch neue technische Erfindungen veralteten, überholten Produktionsform." Die Aufgabe bestand also in einer Umfunktionierung der Konzertform, die zwei Bedingungen erfüllen mußte: erstens den Gegensatz zwischen Ausführenden und Hörenden und zweitens den zwischen Technik und Gehalten zu beseitigen. Hierzu macht Eisler folgende aufschlußreiche Feststellung: "Man muß sich hüten, die Orchestermusik zu überschätzen und sie für die einzig hohe Kunst zu halten. Musik ohne Worte hat ihre große Bedeutung und ihre volle Ausdehnung erst im Kapitalismus erhalten." Das heißt: die Aufgabe, das Konzert zu verändern, ist nicht ohne Mitwirkung des Wortes möglich. Sie allein ist es, die, wie Eisler es formuliert, die Veränderung eines Konzertes in ein politisches Meeting bewirken kann. Daß aber eine solche Veränderung in der Tat einen Höchststand der musikalischen und literarischen Technik darstellt, haben Brecht und Eisler mit dem Lehrstück "Die Maßnahme" bewiesen.

 

Blicken Sie von hier aus auf den Umschmelzungsprozeß literarischer Formen zurück, von welchem die Rede war, so sehen Sie, wie Photo und Musik, und so ermessen Sie, was ferner noch in jene glühendflüssige Masse eintritt, aus der die neuen Formen gegossen werden. Sie sehen bestätigt, daß es die Literarisierung aller Lebensverhältnisse ist, welche allein den rechten Begriff vom Umfange dieses Schmelzvorgangs gibt, so wie der Stand des Klassenkampfes die Temperatur bestimmt, unter der er - mehr oder weniger vollendet - zustande kommt.

 

Ich sprach von dem Verfahren einer gewissen modischen Photographie, das Elend zum Gegenstand des Konsums zu machen. Indem ich mich der neuen Sachlichkeit als literarischer Bewegung zuwende, muß ich einen Schritt weitergehen und sagen, daß sie den Kampf gegen das Elend zum Gegenstand des Konsums gemacht hat. In der Tat erschöpfte sich ihre politische Bedeutung in vielen Fällen mit der Umsetzung revolutionärer Reflexe, soweit sie im Bürgertum auftraten, in Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsements, die sich unschwer dem großstädtischen Kabarett-Betrieb einfügten. Die Verwandlung des politischen Kampfs aus einem Zwang zur Entscheidung in einen Gegenstand kontemplativen Behagens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel, ist für diese Literatur das Kennzeichnende. Ein einsichtiger Kritiker hat dies am Beispiel von Erich Kästner mit folgenden Ausführungen erläutert: "Mit der Arbeiterbewegung hat diese linksradikale Intelligenz nichts zu tun. Vielmehr ist sie als bürgerliche Zersetzungserscheinung das Gegenstück zu der feudalistischen Mimikry, die das Kaiserreich im Reserveleutnant bewundert hat. Die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky sind die proletarische Mimikry zerfallener Bürgerschichten. Ihre Funktion ist, politisch betrachtet, nicht Parteien, sondern Cliquen, literarisch betrachtet, nicht Schulen, sondern Moden, ökonomisch betrachtet, nicht Produzenten, sondern Agenten hervorzubringen. Agenten oder Routiniers, die großen Aufwand mit ihrer Armut treiben und sich aus der gähnenden Leere ein Fest machen. Gemütlicher konnte man sich's in einer ungemütlichen Situation nicht einrichten."

 

Diese Schule, so sagte ich, trieb großen Aufwand mit ihrer Armut. Sie entzog sich damit der dringlichsten Aufgabe des heutigen Schriftstellers: der Erkenntnis, wie arm er ist und wie arm er zu sein hat, um von vorn beginnen zu können. Denn darum handelt es sich. Der Sowjetstaat wird zwar nicht, wie der platonische, den Dichter ausweisen, er wird aber - und darum erinnerte ich eingangs an den platonischen - diesem Aufgaben zuweisen, die es ihm nicht erlauben, den längst verfälschten Reichtum der schöpferischen Persönlichkeit in neuen Meisterwerken zur Schau zu stellen. Eine Erneuerung im Sinn solcher Persönlichkeiten, solcher Werke zu erwarten, ist ein Privileg des Fascismus, der dabei so törichte Formulierungen an den Tag bringt wie die, mit welcher Günther Gründel in der "Sendung der Jungen Generation" seine Literaturrubrik abrundet: "Wir können diesen ... Über- und Ausblick nicht besser schließen als mit dem Hinweis, daß der 'Wilhelm Meister', der 'Grüne Heinrich' unserer Generation bis heute noch nicht geschrieben ist." Dem Autor, der die Bedingungen heutiger Produktion durchdacht hat, wird nichts ferner liegen, als solche Werke zu erwarten oder auch nur zu wünschen. Seine Arbeit wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion besitzen. Und keineswegs hat ihre organisatorische Verwertbarkeit sich auf ihre propagandistische zu beschränken. Die Tendenz allein tut es nicht. Der ausgezeichnete Lichtenberg hat gesagt: es kommt nicht darauf an, was für Meinungen einer hat, sondern was diese Meinungen für einen Mann aus ihm machen. - Nun kommt zwar doch auf Meinungen viel an, aber die beste nützt nichts, wenn sie nichts Nützliches aus denen macht, die sie haben. Die beste Tendenz ist falsch, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzukommen hat. Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas macht: nämlich schreibend. Die Tendenz ist die notwendige, niemals die hinreichende Bedingung einer organisierenden Funktion der Werke. Diese erfordert weiterhin das anweisende, unterweisende Verhalten des Schreibenden. Und heute ist das mehr denn je zu fordern. Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden. Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat um so besser, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist. Wir besitzen bereits ein derartiges Modell, von dem ich hier aber nur andeutend sprechen kann. Es ist das epische Theater von Brecht.

 

Immer wieder werden Tragödien und Opern geschrieben, denen scheinbar ein altbewährter Bühnenapparat zur Verfügung steht, während sie in Wirklichkeit nichts tun, als einen hinfälligen beliefern. "Diese bei Musikern, Schriftstellern und Kritikern herrschende Unklarheit über ihre Situation, sagt Brecht, hat ungeheure Folgen, die viel zu wenig beachtet werden. Denn in der Meinung, sie seien im Besitz eines Apparates, der in Wirklichkeit sie besitzt, verteidigen sie einen Apparat, über den sie keine Kontrolle mehr haben, der nicht mehr, wie sie noch glauben, Mittel für die Produzenten ist, sondern Mittel gegen die Produzenten wurde." Zu einem Mittel gegen die Produzenten ist dies Theater komplizierter Maschinerien, riesenhafter Statistenaufgebote, raffinierter Effekte nicht zum wenigsten dadurch geworden, daß es die Produzenten für den aussichtslosen Konkurrenzkampf zu werben sucht, in den Film und Rundfunk es verflochten haben. Dieses Theater - mag man an dasjenige der Bildung oder der Zerstreuung denken; beide sind Komplemente und ergänzen sich - ist dasjenige einer saturierten Schicht, der alles, was ihre Hand berührt, zu Reizen wird. Sein Posten ist ein verlorener. Nicht so der eines Theaters, welches, statt zu jenen neueren Publikationsinstrumenten in Konkurrenz zu treten, sie anzuwenden und von ihnen zu lernen, kurz seine Auseinandersetzung mit ihnen sucht. Diese Auseinandersetzung hat das epische Theater zu seiner Sache gemacht. Es ist, am gegenwärtigen Entwicklungsstande von Film und Rundfunk gemessen, das zeitgemäße.

 

Im Interesse jener Auseinandersetzung zog sich Brecht auf die ursprünglichsten Elemente des Theaters zurück. Er begnügte sich gewissermaßen mit einem Podium. Er verzichtete auf weitausgreifende Handlungen. So gelang es ihm, den Funktionszusammenhang zwischen Bühne und Publikum, Text und Aufführung, Regisseur und Schauspieler zu verändern. Das epische Theater, erklärte er, hat nicht sowohl Handlungen zu entwickeln als Zustände darzustellen. Es erhält solche Zustände, wie wir gleich sehen werden, indem es die Handlungen unterbrechen läßt. ich erinnere Sie hier an die Songs, die in der Unterbrechung der Handlung ihre Hauptfunktion haben. Hier nimmt das epische Theater also - mit dem Prinzip der Unterbrechung nämlich - wie Sie wohl sehen, ein Verfahren auf, das Ihnen in den letzten Jahren aus Film und Rundfunk, Presse und Photographie geläufig ist. Ich spreche vom Verfahren der Montage: das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchem es montiert ist. Daß aber dieses Verfahren hier sein besonderes, ja hier vielleicht sein vollendetes Recht hat, darauf erlauben Sie mir einen kurzen Hinweis.

 

Die Unterbrechung der Handlung, derentwegen Brecht sein Theater als das epische bezeichnet hat, wirkt ständig einer Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion nämlich ist für ein Theater unbrauchbar, das vorhat, die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am Ende, nicht am Anfang, dieses Versuches stehen aber die Zustände. Zustände, welche in dieser oder jener Gestalt immer die unsrigen sind. Sie werden dem Zuschauer nicht nahegebracht, sondern von ihm entfernt. Er erkennt sie als die wirklichen Zustände, nicht, wie auf dem Theater des Naturalismus, mit Süffisance sondern mit Staunen. Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung der Abläufe. Nur daß die Unterbrechung hier nicht Reizcharakter, sondern eine organisierende Funktion hat. Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle. An einem Beispiel will ich Ihnen zeigen, wie Brechts Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem, oft nur modischen, Verfahren in ein menschliches Geschehen bedeutet. - Stellen Sie sich eine Familienszene vor: die Frau ist gerade im Begriffe, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. In diesem Augenblick tritt ein Fremder ein. Der Vorgang ist unterbrochen; was an seiner Stelle zum Vorschein kommt, das ist der Zustand, auf welchen nun der Blick des Fremden stößt: verstörte Mienen, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnteren Szenen des heutigen Daseins sich nicht viel anders ausnehmen. Das ist der Blick des epischen Dramatikers.

 

Er stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk das dramatische Laboratorium gegenüber. Er greift in neuer Weise auf die große alte Chance des Theaters zurück - auf die Exponierung des Anwesenden. Im Mittelpunkt seiner Versuche steht der Mensch.

 

Der heutige Mensch; ein reduzierter also, in einer kalten Umwelt kaltgestellter. Da aber nur dieser uns zur Verfügung steht, so haben wir Interesse, ihn zu kennen. Er wird Prüfungen unterworfen, Begutachtungen. Was sich ergibt, ist dies: veränderlich ist das Geschehen nicht auf seinen Höhepunkten, nicht durch Tugend und Entschluß, sondern allein in seinem streng gewohnheitsmäßigen Verlaufe, durch Vernunft und Übung. Aus kleinsten Elementen der Verhaltungsweisen zu konstruieren, was in der aristotelischen Dramaturgie "handeln" genannt wird, das ist der Sinn des epischen Theaters. Sein Mittel sind also bescheidener als die des überlieferten Theaters; seine Zwecke sind es gleichfalls. Er sieht es weniger darauf ab, das Publikum mit Gefühlen, und seien es auch die des Aufruhrs, zu erfüllen, als es auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zuständen zu entfremden, in denen es lebt. Nur nebenbei sei angemerkt, daß es fürs Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen. Und insbesondere bietet die Erschütterung des Zwerchfells dem Gedanken gewöhnlich bessere Chancen dar als die der Seele. Das epische Theater ist üppig nur in Anlässen des Gelächters. -

 

Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, daß die Gedankengänge, vor deren Abschluß wir stehen, dem Schriftsteller nur eine Forderung präsentieren, die Forderung nachzudenken, seine Stellung im Produktionsprozesse sich zu überlegen. Wir dürfen uns darauf verlassen: diese Überlegung führt bei den Schriftstellern, auf die es ankommt, das heißt bei den besten Technikern ihres Fachs früher oder später auf Feststellungen, die ihre Solidarität mit dem Proletariat auf die nüchternste Art begründen. Ich möchte dafür zum Schluß einen aktuellen Beleg beibringen in Gestalt einer kleinen Stelle aus der hiesigen Zeitschrift "Commune". "Commune" hat eine Umfrage veranstaltet: "Für wen schreiben Sie?" Ich zitiere aus der Antwort von René Maublanc, sowie aus den anschließenden Bemerkungen von Aragon. "Unzweifelhaft schreibe ich, sagt Maublanc, fast ausschließlich für bürgerliches Publikum. Erstens weil ich dazu genötigt bin" - hier verweist Maublanc auf seine Berufspflichten als Gymnasiallehrer - "zweitens weil ich von bürgerlicher Herkunft, bürgerlicher Erziehung bin und aus bürgerlichem Milieu stamme, dergestalt natürlich geneigt bin, mich an die Klasse zu wenden, der ich angehöre, die ich am besten kenne und am besten verstehen kann. Das will aber nicht heißen, daß ich schreibe, um ihr zu gefallen oder um sie zu stützen. Auf der einen Seite bin ich überzeugt, daß die proletarische Revolution notwendig und wünschenswert ist, auf der anderen Seite, daß sie um so schneller, leichter, erfolgreicher und weniger blutig sein wird, je schwächer der Widerstand der Bourgeoisie ist ... Das Proletariat braucht heute Verbündete aus dem Lager der Bourgeoisie genau wie im achtzehnten Jahrhundert die Bourgeoisie Verbündete aus dem feudalen Lager gebraucht hat. Unter diesen Verbündeten möchte ich sein."

 

Hierzu bemerkt Aragon: "Unser Kamerad berührt hier einen Sachverhalt, der eine sehr große Zahl heutiger Schriftsteller betrifft. Nicht alle haben den Mut, ihm ins Auge zu blicken ... Die, welche über ihre eigene Lage sich so klar sind wie René Maublanc, sind selten. Gerade von denen aber muß man noch mehr verlangen ... Es ist nicht genug, die Bourgeoisie von innen her zu schwächen, man muß sie mit dem Proletariat bekämpfen ... Vor René Maublanc und vielen unserer Freunde unter den Schriftstellern, welche noch schwankend sind, steht das Beispiel der sowjetrussischen Schriftsteller, die aus der russischen Bourgeoisie hervorgegangen sind und dennoch Pioniere des sozialistischen Aufbaus geworden sind."

 

Soweit Aragon. Wie sind sie aber zu Pionieren geworden? Doch wohl nicht ohne sehr erbitterte Kämpfe, höchst schwierige Auseinandersetzungen. Die Überlegungen, welche ich Ihnen vortrug, machen den Versuch einen Ertrag aus diesen Kämpfen zu ziehen. Sie stützen sich auf den Begriff, dem die Debatte um die Haltung der russischen Intellektuellen ihre entscheidende Klärung verdankt: auf den Begriff des Spezialisten. Die Solidarität des Spezialisten mit dem Proletariat - darin besteht der Anfang dieser Klärung - kann immer nur eine vermittelte sein. Die Aktivisten und die Vertreter der neuen Sachlichkeit mochten sich gebärden wie sie wollten: sie konnten die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß selbst die Proletarisierung des Intellektuellen fast niemals einen Proletarier macht. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der Bildung ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr, und noch mehr sie mit ihm, solidarisch macht. Es ist daher vollkommen richtig, wenn Aragon, in anderem Zusammenhang, erklärt hat: "Der revolutionäre Intellektuelle erscheint zunächst und vor allem als Verräter an seiner Ursprungsklasse." Dieser Verrat besteht, beim Schriftsteller, in einem Verhalten, das ihn aus einem Belieferer des Produktionsapparates zu einem Ingenieur macht, der seine Aufgabe darin erblickt, diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen. Das ist eine vermittelnde Wirksamkeit, aber sie befreit doch den Intellektuellen von jener rein destruktiven Aufgabe, auf die Maublanc mit vielen Kameraden ihn einzuschränken zu müssen glaubt. Gelingt es ihm, die Vergesellschaftung der geistigen Produktionsmittel zu fördern? Sieht er Wege, die geistigen Arbeiter im Produktionsprozesse selbst zu organisieren? Hat er Vorschläge für die Umfunktionierung des Romans, des Dramas, des Gedichts? Je vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufgabe auszurichten vermag, desto richtiger die Tendenz, desto höher notwendigerweise auch die technische Qualität seiner Arbeit. Und andererseits: je genauer er dergestalt um seinen Posten im Produktionsprozeß Bescheid weiß, desto weniger wird er auf den Gedanken kommen, sich als "Geistiger" auszugeben. Der Geist, der sich im Namen des Fascismus vernehmbar macht, muß verschwinden. Der Geist, der ihm im Vertrauen auf die eigene Wunderkraft entgegentritt, wird verschwinden. Denn der revolutionäre Kampf spielt sich nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Geist, sondern zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat ab.

 


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