TexturenRezensionen

19.10.2013

Aus der Redaktion

 

Das neue Buch von Texturen-online-Redakteur Michael Schikowski: »Warum Bücher? Buchkultur in Zeiten der Digitalkultur«

 

von Florian Grundei

 

Wo liegen die Unterschiede zwischen der Digital- und der Buchkultur? Ergänzen und beeinflussen sich beide Strömungen, oder kämpfen sie eher gegeneinander? In seinem neuen Buch »Warum Bücher?« sieht Michael Schikowski mit der digitalen Kultur eine fundamentale Veränderung unserer Lesegewohnheiten einhergehen.

 

Neue Teilnehmer im Betrieb

Michael Schikowski unterscheidet in seinem Buch drei aktuell agierende Typen von Teilnehmern im Literaturbetrieb: Die von ihm sogenannten »fortschrittlichen Verbandsfunktionäre«,[1] die die Transformation von der Buch- zur Digitalkultur unterstützen, da sie in Verhandlungen mit weltweit agierenden im digitalen Feld operierenden Konzernen stehen; »Konservative Protestler«,[2] die mit der Transformation in die Digitalkultur gleichzeitig auch das Ende der Buchkultur zu sehen scheinen sowie als Teilnehmer der digitalen Community die »progressiven Opportunisten«,[3] die diese Transformation zu Ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Schikowski wertet die erst- und letztgenannten Teilnehmer als durch ein kooperatives Netzwerk verbunden, da der Verband – und das zeigen die Ergebnisse der letzten Jahre – sich dem Druck des »finanz-digitalen Komplexes«[4] zu beugen scheint.[5] Dies äußert sich beispielsweise in öffentlich geförderten Initiativen für Open-Access-Publikationen, in der Digitalisierungswelle in öffentlichen Bibliotheken oder einem gleichzeitig schrumpfenden Etat für Neuerwerbungen in den traditionellen Operationsfeldern von Bibliotheken. Die Transformation von Buchkultur in eine Digitalkultur hat laut Schikowski also längst begonnen und äußert sich – wie die vorhergehenden Beispiele zeigen – mit ganz konkreten Auswirkungen.

 

Digitale Physiognomik

Schikowski versucht sich an einem Psychogramm der von ihm als »progressive Opportunisten« bezeichneten Gruppe. Wie konstituiert sie sich als Gruppe oder kollektiver Teilnehmer? Welche sozialen Merkmale und moralische Kategorien kann man deduzieren? Und: Kann es anhand dieser Fragen die von Schikowski neu beschriebene Gruppe der »progressiven Opportunisten« überhaupt geben? Michel Foucault hat in seinem Text »Sexualität und Wahrheit« bemerkt:

 

Unter »Moral« versteht man ein Ensemble von Werten und Handlungsregeln, die den Individuen und Gruppen mittels diverser Vorschreibapparate – Familie, Erziehungsinstitutionen, Kirchen usw. – vorgesetzt werden. Es kommt vor, daß diese Regeln und Werte sehr ausdrücklich in einer zusammenhängenden Lehre und einem ausführlichen Unterricht formuliert werden. Es kann aber auch sein, daß sie in diffuser Weise übermittelt werden und daß sie kein systematisches Ganzes, sondern ein komplexes Spiel von Elementen bilden, die sich kompensieren, korrigieren, stellenweise aufheben und dergestalt Kompromisse und Ausflüchte gestatten. Unter solchen Vorbehalten kann man diese präskriptiven Elemente »Moralcode« nennen. Unter »Moral« versteht man aber auch das wirkliche Verhalten der Individuen in seinem Verhältnis zu den Regeln und Werten, die ihnen vorgesetzt sind: man bezeichnet so die Art und Weise, in der sie sich mehr oder weniger vollständig einem Verhaltensgrundsatz unterwerfen, einem Verbot oder einer Vorschrift gehorchen oder widerstehen, ein Wertensemble achten oder vernachlässigen.[6]

 

Die von Foucault erwähnten »Vorschreibeapparate« scheinen für die »progressiven Opportunisten« jene technischen Arbeitsmittel (»Technologien des Selbst« lautet ein programmatischer Titel in diesem Zusammenhang[7]) zu sein, über die sie sich selbst definieren wollen, die ihnen ein Gefühl von Identität, Freiheit und grenzenloser Kommunikation zu bieten scheinen. Will man die These Foucaults übertragen, so kann man herleiten: Die Gruppe der »konservativen Protestler« hat sich der Druckerpresse unterworfen, die Gruppe der »progressiven Opportunisten« hat sich der digitalen Technik unterworfen. Beide Gruppen entwickeln eigene Identitäten. Allerdings: Der Aspekt der Machtausübung – auch hierzu hat Foucault gearbeitet – derjenigen, die die technischen Vorraussetzungen für diese Identifikation bereitstellen, scheint für die Gruppe der »progressiven Opportunisten« nicht von zentraler Relevanz zu sein. Schikowski beschreibt sie als institutionenskeptisch,[8] aber gleichzeitig als technikhörig und ausgezeichnet mit einem veränderten Eigentumsbegriff:

 

Die progressiven Opportunisten haben aus der Unmöglichkeit des Schutzes von Eigentum den Kult des Teilens entwickelt: nicht Haben, sondern Werden.[9]

 

Anders die »konservativen Protestler«, die Getreu dem Goetheschen Vers zu handeln scheinen: »Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.« Das Eigentum des Einzelnen, der individuelle Besitz scheint in der neuen Generation der »progressiven Opportunisten« nicht von zentraler Bedeutung zu sein, da sie dem Trugschluss erlegen sind, dass die Dinge digital vorrätig bleiben.

 

Digitalisate besitzt man nicht

Schikowski zählt zu einem erstaunlichen, im öffentlichen Diskurs vertretenen Allgemeinplatz die Aussage, dass man Digitalisate (er spricht nicht von ebooks, da er diesen Begriff für dem Produkt nicht entsprechend hält)[10] besitzen würde. Dem ist, wie er herausstellt, nicht so. Man kauft sich lediglich eine Lizenz für den Konsum eines Digitalisats, man kann es nicht weiterverkaufen, nicht vererben, »ja nicht einmal umtauschen«[11]. Die neuempfundene Freiheit, die sich darin äußern soll, dass wir jeden Tag jederzeit und örtlich ungebunden auf Digitalisate zugreifen können, erweist sich somit als fataler Fehlschluss, denn wir sind in Bezug auf den Zugriff abhängig von jenen, die die Digitalisate verwalten:

Die Digitalkultur hat mit jedem Instrument, das sie zum Schutz von Eigentum entwickelt hat, zugleich das Instrument mit entwickelt, denselben auszuhebeln. Die Unmöglichkeit des Schützens hat Ähnlichkeit mit dem Umstand, dass Sicherheitsdienste häufig von einem Furcht einflößenden Personal ausgeübt werden. Bei ihnen ist man manchmal nicht sicher, ob sie Anlass oder Abwehr der Bedrohung sind.[12]

 

Digitale Leseinszenierungen

Schikowski stellt fest: Die »progressiven Opportunisten« arbeiten mit und lassen sich von Digitalisaten unterhalten und teilen Meinungen, Einstellungen und Interessantes mit jenen, die dasselbe meinen, dieselben Einstellungen haben und dasselbe interessant finden. Der Zirkelschluss ist für Schikowski eindeutig, auch der daraus resultierende Zwang, sich positiv gegenüber der Community zu verhalten, der man angehört, Kritik fällt da zunehmend schwer, wo man sie nicht üben sollte, nämlich unter seinesgleichen. Das zwingt zur permanenten Außendarstellung seiner Gefühlswelt.[13] Diese Außendarstellung – so konstatiert Schikowski – kann sich auch im Literaturkonsum zeigen.

 

Literatur vermag es Wirklichkeitsverhältnisse zu beschreiben, sich zu Problemen zu positionieren oder uns schlichtweg zu unterhalten. Es kommt auf das jeweilige Selbstverständnis an. Und dass wir über Texte (und Narrationen) reden und diskutieren wollen, ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Kulturverhaltens. Die Art und Weise, wie man das tut, ist jedoch ganz unterschiedlich. Es haben sich in den vergangenen Jahren aus den traditionellen Strukturen digitale Räume ausdifferenziert, die das Lesepublikum selbst zu trennen scheint, wieder scheinen hier »konservative Protestler« und »digitale Opportunisten« zu agieren. Für Letztgenannte bieten Soziale Medien eine Struktur, die Leseinszenierungen – »Präsentationen des Selbst«,[14] wie Schikowski es nennt – leicht ermöglichen; die es also ermöglichen, in bestimmten Räumen mit einem bestimmten aufgesetzten Profil aufzutreten, um dem (erstaunten) User zu zeigen: »Wow, der/die liest aber wild und viel, Wahnsinn!«

 

Das Buch ist hier das Opfer seiner digitalen Freunde, die in ihrem Sekundärkosmos der Buchbegeisterung vor allem einem den Garaus machen: dem Lesen von Büchern: Ein wenig gewinnt man den Eindruck, dass es der Mangel an Leseerlebnissen ist, der das Gequatsche, Gezeige und Geposte der Social Media nur weiter anheizt. So wenig aber Sportbekleidung die Kondition verbessert, so wenig erzeugen Social Media Leseerlebnisse.[15]

 

Inszenierungen sind nun per se als soziales Phänomen allgemein akzeptiert, aber Beispiele wie die Seite readmill.com zeigen prototypisch auf, wie man es nicht machen sollte und was soziale Medien mit unseren Lesegewohnheiten machen können:[16] der User bei readmill.com kopiert Fragmente des gesamten Textkorpus mithilfe der App auf die readmill-Seite des Digitalisats, das er liest; dort werden die Textfragmente dokumentiert und für alle sichtbar. Diese Fragmente wirken sich dann vielfach aus: Nicht nur fragmentieren sie den Text, entreißen ihn dem Kontext, vielmehr fragmentieren sie den Blick des Interessierten, also desjenigen, der sich bewusst auf die Seite eines für ihn interessant klingenden Titels bewegt. Und readmill.com nennt das dann auch noch »Highlights«. Was hier jedoch unter »Highlights« verstanden wird, sind nichts anderes als Kopien der für den User interessanten Stellen aus den Digitalisaten. De facto arbeitet diese App – jedenfalls in Bezug auf nicht gemeinfreie Texte – ganz bewusst mit Urheberrechtsverletzungen und sie arbeitet damit letztendlich gegen all diejenigen, die Texte produzieren, also den Autorinnen und Autoren sowie den Verwaltern deren Rechte, also den Verlagen. Dass die ständig durch die Kommentarfunktion (»Bitte kommentieren Sie unbedingt auch meinen brisanten Artikel! Ich bin abhängig von Ihrer Resonanz!«) geforderte Diskussionskultur fast völlig ausbleibt bewirkt, dass die Fragmente im Fall von readmill.com einfach wie zerfetzte Fähnchen am Baum hängen – auf Peter Altenbergsche »Seelentelegramme« wartet man vergebens. Die Kommentare, die man in den (subjektiv) untersuchten Beispielen lesen konnte waren eher kalt, zynisch und das Layout wirkt unbelebt. Schikowski zweifelt am neuen Leseerlebnis in der Digitalkultur, dem jedenfalls kann man im vorliegenden Beispiel unumschränkt zustimmen.

 

Wie weiter?

Die Situation beschreibt Schikowski als hoffnungslos verfahren: Es scheint, als könne sich langsam der ökonomisch stärkere Kontrahent durchsetzen[17] – und während sich die »konservativen Kritiker« in ihre letztverbliebenen Schutzburgen zurückziehen, agieren die »progressiven Opportunisten«, geschützt durch die »fortschrittlichen Verbandsfunktionäre« weiter auf freiem Feld und mit einer ungeheuerlichen Sogfunktion, da die praktischen Nebeneffekte von digitalen Dienstleistern in einer komplett vernetzten Welt schwer von der Hand zu weisen sind. Doch sie bleiben –und das zeigen jüngste Enthüllungen von Edward Snowden – nicht ohne einschneidende Konsequenzen für jeden einzelnen Teilnehmer.

 

Michael Schikowski hat mit »Warum Bücher?« eine Schrift vorgelegt, die sich klar positioniert: Für die Buchkultur und gegen eine fortschreitende Digitalkultur. Die Thesen sind, wie sein Ton auch, scharf gewürzt. Ein kurzweiliges Vergnügen für all jene, die sich kritisch mit den literaturbetrieblichen Veränderungen unserer Zeit beschäftigen wollen.

 

Michael Schikowski

Warum Bücher?

Buchkultur in Zeiten der Digitalkultur

104 S., brosch.

Frankfurt am Main: Bramann 2013

14,90 € (D); 15,40 € (A)

 

 


[1] Michael Schikowski: Warum Bücher? Buchkultur in Zeiten der Digitalkultur. Frankfurt am Main: Bramann 2013, S.27. [Fortan: Schikowski: Warum Bücher?]

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd., S.33.

[5] Einen interessanten Überblick zu wesentlichen Debatten über das Urheberrecht bietet eine Themenseite der Frankfurter Allgmeinen Zeitung: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/urheberrecht/  [aufgerufen am 18.10.13, 19:37h]. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat seinerseits die letzten (auch juristischen) Entscheidungen rund um die Urheberrechtsdebatte und neue digitale Teilnehmer dokumentiert: Vgl. http://www.boersenverein.de/de/portal/Urheberrecht/158327 [aufgerufen am 18.10.13, 19:33h].

[6] Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Aus dem Frz. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter. In: Ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S.1175f.

[7] Michel Foucault et al.: Technologien des Selbst. Frankfurt am Main: S. Fischer 1993.

[8] Vgl. Schikowski: Warum Bücher? S.37f.

[9] Ebd., S.39.

[10] Vgl. Schikowski: Warum Bücher?, S.17f.

[11] Ebd., S.14.

[12] Ebd., S.21.

[13] Vgl. ebd. S.43.

[14] Ebd., S.40.

[15] Ebd., S.24f.

[16] Ein gutes Beispiel bietet Tobias Wißmanns »Rezension« des hier verhandelten Textes auf readmill.com: https://readmill.com/tobias_wissmann/reads/warum-bucher [aufgerufen am 19.10.2013, 17:21h]

[17] Vgl. zur zunehmenden Skepsis US-amerikanischer Intellektueller vor der Zukunft des Silicon Valleys aktuell Jörg Häntzschel: Der Gottkonzern, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.10.2013, Nr.242/2013, S.13.

 

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