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Karl Poppers Wissenschaftstheorie und die Hermeneutik

von Florian Michael Matthes

von LSE library [Public domain], via Wikimedia Commons
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Karl Popper bespricht in seinem Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ explizit die Bedeutung seiner Theorie von den drei Welten für die Geisteswissenschaft, genauer gesagt für die Hermeneutik[1]. Von dieser Aussage ausgehend will ich untersuchen, inwiefern sich dieses Modell für die literaturwissenschaftliche Interpretation von Texten als nützlich erweist. Dabei soll es jedoch nicht bleiben, sondern vielmehr darum gehen, zu untersuchen, ob Popper mit diversen anderen Theorien – wie beispielsweise seinem Prinzip der Falsifikation – einen für die Literaturwissenschaft breit anwendbaren wissenschaftstheoretischen Beitrag geleistet hat, oder ob sich die Anwendungsmöglichkeit seiner Vorschläge eher auf naturwissenschaftliche Anwendungsgebiete beschränkt. 

 

Dazu möchte ich zuerst einige wichtige Annahmen Poppers darstellen, um im zweiten Teil eine Übertragung auf literaturwissenschaftliche Bereiche zu versuchen. Dies soll zuerst theoretisch und schließlich auch praktisch geschehen. Theoretisch, indem ich der Frage nachgehen werde, ob die Fragestellungen der Literaturwissenschaft prinzipiell mit der Rationalität im Sinne Poppers kompatibel sind und praktisch, indem ich versuche, eine Interpretation einer Kurzgeschichte aus der Perspektive der Popper’schen Theorie auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.

 

Wissenschaftstheoretische Annahmen  

 

Drei-Welten-Theorie 

 

Popper entfaltet zur Entwicklung einer einfallsreichen und zugleich argumentativen und kritischen Theorie, welche unser Weltbild bereichern soll,[2] eine Dreiteilung der Welt in drei ontologisch verschiedene Teilwelten. Die Welt 1 der physikalischen Zustände, die Welt 2 der psychischen Erlebnisse und schließlich die Welt 3 der möglichen Gegenstände unseres Denkens. Diese Welt enthält nicht nur gültige Argumente an sich, sondern auch ungültige Argumente an sich.[3] Mit dieser Behauptung will Popper jeglicher Verwechslung mit Gegenständen der Welt 2 entgegentreten, denn Gegenstände der Welt 3 „[…] sind nur allzuoft mit subjektiven Ideen oder Denkprozessen verwechselt worden[…]“.[4]  

Die entscheidende Funktion in diesem Modell kommt der Welt 2 als Mittlerin zwischen Welt 1 und 3 zu. Die Vermittlung geschieht durch die vom Menschen benutzte Sprache, mit der er gleichzeitig Gegenstände von Welt 1 und 3 bezeichnen kann. Weiterhin bemerkenswert ist, dass Popper die Welt 3 sowohl als Erzeugnis des Menschen, als auch ihrem Status nach, unabhängig von ihm betrachtet. Unabhängig im Sinne einer reinen Objektivität, welche im Kontext literaturwissenschaftlicher Betrachtungen dadurch zum Problem wird, dass wir sie auch mit Gegenständen der Welt 2 erfassen können, aber dazu unten mehr.
 

Das Prinzip der Falsifikation
 

Die Falsifizierbarkeit, d.h. die Möglichkeit, dass eine Theorie an der Erfahrung scheitern kann, führt Popper als Abgrenzungskriterium zwischen empirischer Wissenschaft auf der einen Seite und Pseudowissenschaft auf der anderen Seite in seiner „Logik der Forschung“ ein.[5] Demnach muss eine Aussage in überprüfbare Basissätze zerlegbar sein, welche einen konkreten Raum-Zeit-Bezug besitzen. Somit scheiden Aussagen aus dem wissenschaftlichen Betrieb aus, die entweder tautologischer Natur sind, oder sich durch Zusatzannahmen gegen eine Falsifikation immunisieren. Ob Aussagen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen die notwenige Empirie für eine mögliche Falsifikation aufweisen, soll nachher diskutiert werden. 


Vermutung und Widerlegung 

 

Vom Anspruch der Wissenschaft, (end)gültige Wahrheiten hervorzubringen, verabschiedet sich Popper schnell. Ihm geht es stattdessen darum, Theorien zu entwickeln, welche so wahrheitsnah als nur möglich sind. Dafür schlägt er das ständige kritische Prüfen von Hypothesen vor, indem versucht wird, sie zu widerlegen. Wissenschaftler sollten daher nicht versuchen, ihre Theoreme zu verifizieren, sondern versuchen, sie aus so vielen Perspektiven wie möglich zu falsifizieren. Gelingt dies nicht, so bewährt sich ihre Annahme zunächst. Dem folgt auch Poppers Lernschema. Durch Fehlerelimination sollen vorläufige Theorien verbessert werden, um sich in neuen, übergeordneten Problemsituationen erneut der kritischen Prüfung auszusetzen.[6] Die Frage, ob durch bloßes kritisches Überprüfen von hermeneutischen Vermutungen eine sich der Wahrheit annähernde Progression im Verstehen eines Textes herbeigeführt werden kann, soll im Schlussteil zu beantworten versucht werden. 

  

Die Literaturwissenschaft als Wissenschaft des Problemlösens? 


Induktionsproblem und ein geeignetes deduktives Verfahren 


Wie generieren Literaturwissenschaftler ihre Hypothesen? Aus Poppers Sicht wäre die induktive Verfahrensweise vollkommen ungeeignet: „Eine empirische Auffassung des Induktionsprinzips scheitert also daran, daß sie zu einem unendlichen Regreß führt.“[7]

Dagegen wird von ihm vorgeschlagen: „[…] Aus der vorläufig unbegründeten Antizipation, dem Einfall […] werden auf logisch-deduktivem Weg Folgerungen abgeleitet[…]“.[8] Die daraus gewonnenen Ergebnisse müssen allerdings mit dem Makel zurückbleiben, immer nur als vorläufig bewährte Schlüsse angesehen zu werden, da von ihnen niemals auf die Gültigkeit einer gesamten Theorie geschlossen werden kann. Immerhin kann die Hermeneutik durch den sich immer wieder anschließenden Prozess der kritischen Überprüfung jeder These dem Vorwurf begegnen, dass literaturwissenschaftliche Interpretationen überhaupt keine wissenschaftlichen Tätigkeiten seien. Was aber meint Popper mit der „unbegründeten Antizipation“? Diese wird in der Regel durch Beobachtungen von einzelnen Phänomenen gewonnen. Somit könnte Popper vorgehalten werden, dass seine gegen den Induktivismus gerichtete Theorie selbst nicht ohne Elemente der Induktion auskommt.[9] Popper räumt an dieser Stelle ein, dass der Wissenschaftler es tatsächlich mit einer trilemmatischen Situation zu tun hat. Der schon angesprochene unendliche Regreß, sowie dessen Abbruch, welcher in schlichten Dogmatismus mündet, können als Wissensgrundlage nicht herhalten. Vielmehr sollte der Forscher, welcher der Empirie gerecht werden will, kritisch die psychologistische Basis als Ausgangspunkt seiner Aussagen verwenden.[10] Die somit relativ unbegründete Antizipation stellt jedoch den ersten Schritt zur Lösung eines Problems dar. Sie sollte phantasievoll oder wenigstens interessant sein: „Interessantheit wird bei ihm [Popper] nach dem Grad der Unwahrscheinlichkeit der Aussage bemessen“.[11] Dies führt aber grade gegenüber der Literaturwissenschaft häufig zu dem Einwand, dass solche Einfälle Ergebnisse unserer vorstrukturierten Erwartungen sind. Dem hält Karl Eibl entgegen: „Poppers Leistung war es, darzustellen, daß dies prinzipiell auch in den Naturwissenschaften geschieht, und daß der Mythos von der reinen Beobachtung […] hinfällig ist“.[12]

Poppers evolutionärer Entwurf innerhalb der deduktiven Forschungslogik sieht vor, dass jede These es wert ist überprüft zu werden, da nur so wissenschaftlicher Fortschritt zu erreichen ist: „Entscheidend ist auf der grundsätzlichen Ebene, daß bei diesem Vorgang die Selektion nur im Rahmen der bereitgestellten Varianten zugreifen kann[…]“.[13] Harald Fricke interpretiert Popper sogar dahingehend, dass es für Geisteswissenschaftler gilt, sehr generelle Thesen provokativ zur Widerlegung durch andere Forscher freizugeben, „[…] statt ihnen [den Falsifikationen] durch ängstliche Vorab-Einschränkungen auszuweichen“.[14]

Als zusätzliche Bedingung für die Wissenschaftlichkeit von (hermeneutischen) Thesen zur Erklärung von Sachverhalten wird angeführt, dass diese sowohl Gesetze als auch Randbedingungen enthalten müssen.[15] Auf diese Randbedingungen soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden.

 

Empirieproblem


Wenn man sich mit dem Begriff „Empirie“ auseinandersetzt, kommt man ohne den Begriff der „Erfahrung“ scheinbar nicht aus. Wie aber kann man Erfahrung intersubjektiv mitteilen? Ein Weg führt über Poppers Basisätze. Er leitet her, dass diese Basissätze singuläre Es-gibt-Sätze mit konkretem Raum-Zeit-Bezug sein sollen.[16] Diese können durch Sinne (z.B.: visuell oder auditiv) wahrgenommen werden. Zwar können verschiedene Individuen, unter der Voraussetzung eines gesicherten Textes, ein und dieselbe Textstelle sehen respektive lesen. Jedoch können Aussagen über diese Textstelle nicht in Form einer quasi-experimentellen Versuchsanordnung wahrgenommen werden. Dies führt zu erheblichen Problemen. „Wissenschaftliche Aussagen lassen sich demnach nicht über die Eigenschaften lit. Texte selbst treffen, sondern nur über Kommunikation (›Kommunikate‹)[…]“.[17]

Einige Strategien, sich nur auf das mit Augen Wahrnehmbare zu konzentrieren, laufen ins Leere. Die dadurch beantwortbaren Fragen, zum Beispiel nach der Worthäufigkeit bestimmter Begriffe im Text, scheinen für eine umfassende literaturwissenschaftliche Interpretation von Texten eine zu triviale Natur aufzuweisen.[18] Aussagen größerer Komplexität, wie sie für die hermeneutische Bestimmung von Texten nun einmal nötig zu sein scheinen, kranken im Zusammenhang mit der erwünschten Empirie sehr häufig an der Vagheit ihrer Begriffe. Wenn die hermeneutischen Thesen ihre Randbedingungen also nicht sichtbar machen können, so müssen sie wenigstens der immerwährenden Kritik ausgesetzt werden. Der Prozess der Wahrheitsannäherung muss hier durch stetige wissenschaftlich-kritische Diskussion angetrieben werden. Eibl arbeitet in diesem Zusammenhang explizit mit dem Begriff der „Regelmäßigkeitsannahme“. In der Unterscheidung von eigenen und fremden Regelmäßigkeitsannahmen und Problemsituationen sieht er einen Weg, wie mittels Gedankenexperiment ein empirischer Charakter der philologischen Hermeneutik generiert werden kann.[19]

 

Kann man hermeneutische Behauptungen falsifizieren?

Neben der Frage nach der Empirie der Behauptungen über den Text taucht auch die Frage nach der Empirie der Aussagen im Text auf. „Im Regelfall jedenfalls gilt, daß Wörter eines poetischen Textes zwar eine Bedeutung haben, aber keine Realitätsreferenz, sie haben eine Intension, aber keine […] Extension“[20]. Diese fehlende Extension wird vom Leser ergänzt. Das führt schließlich spätestens dann, wenn das Beschriebene mit den Gesetzen unserer Erfahrungswelt kollidiert, dazu, dass dem Sensus literalis ein Sensus spiritualis hinzugefügt wird.[21] Hier scheint sich die Textinterpretation immer weiter von einer auf Empirie basierenden Falsifikationsmöglichkeit zu entfernen.[22]

Eibl schlägt in Anlehnung an Schleiermacher folgende dreigliedrige Methode zur Interpretation von historischen Texten vor: 1. Herbeiführen von Verständniskrisen; 2. Bedeutungsermittlung aus der historischen Semantik; 3. Prüfung am Kriterium der Konsistenz als ›Nullmethode‹ der Kontextbildung.[23] Zwar lässt sich eine Behauptung bezüglich der Etymologie eines Wortes falsifizieren (wenn man im Falle von großer Übereinstimmung ein Faktum als gesichert ansehen will). Jedoch lässt sich das auslösende Moment der Verständniskrise schwer in Popper’sche Basissätze fassen.[24] Immerhin kann man als Minimalkonsens festhalten, dass die zentralen Aussagen einer Interpretation stets in Es-gibt beziehungsweise Es-gibt-nicht-Sätzen formuliert werden sollten, um sie so nicht gegen eine Falsifikation zu immunisieren. Wenn man so will, kann man dies sogar in Form einer Wette der scientific community anbieten.[25]

 

Kann die Drei-Welten-Theorie auf hermeneutische Fragen angewendet werden?


Popper betont in seiner Theorie, dass die Welt 3 vollkommen von den anderen Welten abgetrennt ist und kritisiert deutlich, dass Inhalte dieses autonomen Bereiches häufig mit Inhalten der Welt 2 verwechselt werden.[26] Gleichzeitig erkennt er aber auch, dass die – so allgemein wie möglich gesprochen – Entität ›Sprache‹ Zugriff auf alle 3 Welten hat. Schrift als Realisierung von Sprache in Welt 1 ist das Medium, welches der Literaturwissenschaft und somit auch der Hermeneutik die Grundlage liefert. Was wir beim Lesen empfinden, welche Wirkung bei uns durch die Sprache in Form des Geschriebenen (Welt 1), sowie auch der objektiv-logische Gehalt (Welt 3) dessen, was da geschrieben steht, erzielt wird, ist Teil der Welt 2.

Nun ist die Welt 3 die Welt der Theorien, dessen, was gedacht werden kann. Hier befindet man sich in einem „[…] autonomen Bereich der Rationalität [.], der ganz sauber nach einer internen Logik beschrieben werden kann“.[27] Hauptanliegen der Geisteswissenschaft ist „[…] das Verstehen von Gegenständen der Welt 3[.]“.[28] Endzustand einer Interpretation sollte eine von der Welt 2 losgelöste Theorie sein.[29] Hier entsteht das Problem der scheinbaren Unerfüllbarkeit der Popper‘schen Maxime: „Gerade eine literaturwissenschaftliche Problemgeschichte kann sich jedoch vermutlich nicht allein auf eine abgeschlossene Welt 3 beziehen, sondern wird zumindest Elemente der Popper’schen Welt 2 einbeziehen müssen“.[30]

Warum wird eine Interpretation durch unsere psychischen Erlebnisse beeinflusst? Eine sehr triviale Antwort wäre: weil der Gegenstand der Untersuchung, das Interpretandum, gerade darauf zielt, in uns solche Erlebnisse auszulösen. Durch pragmatische Autonomie und Selbstreferenzialität[31] in literarischen Texten wird sozusagen ein psychisch vom Leser zu verarbeitender Mehrwert gegenüber Gebrauchstexten generiert. Daher scheint eine konkrete Anwendung der Drei-Welten-Theorie auf hermeneutische Fragen kaum möglich, da genau diese psychischen Erlebnisse kaum intersubjektiv und schon gar nicht in Basissätzen gegenüber kritischen Forschern explizierbar sind. Das Ersetzen von psychologischen Nachempfindungen durch situations-logische Analysen, welche eine „[…] objektive Problemsituation zu rekonstruieren versuchen.“[32], scheint für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik nur in sehr geringem Umfang anwendbar zu sein.


Ein Beispiel aus einer Metaanalyse


Die bisherigen theoretischen Feststellungen sollen nun auf ein konkretes praktisches Beispiel angewandt werden. Als Beispieltext wird hier Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“ zugrunde gelegt. Dies geschieht aus drei Gründen: erstens eignet sich der Text aufgrund seiner Kürze für den gegebenen Rahmen, zweitens ist der Text von solcher Bekanntheit, dass er keiner Einführung bedarf und drittens unterlag und unterliegt der Text so vielen Interpretationsansätzen, dass bereits Metaanalysen der Interpretationen erschienen sind. Ich möchte mich hierbei konkret auf die Analyse von Els Andringa beziehen, welche sich das Ziel gesetzt hat, einen fruchtbaren Dialog zwischen „empirisch-orientierten“ und „hermeneutisch-orientierten“ Literaturwissenschaftlern zu initiieren.[33] Ihre Metaanalyse ergibt, dass sich die Interpretationen von 1950-1967 in einem Spannungsfeld von Religionsphilosophie, Existenzphilosophie und der Autonomie des Werkes befinden. Als das Thema beziehungsweise die Botschaft des Textes werden angegeben (Auswahl):

(1) Verlust der Beziehung des modernen Menschen zu Gott. (Buber)

(2) Totale Frustration im Dasein. (Deinert)[34]

Bevor zu diesen Thesen Stellung bezogen werden soll, muss gesagt werden, dass Poppers Theorie der objektiven Erkenntnis die Kontextualisierung von (hermeneutischen) Problemen forciert. Demnach ist meines Erachtens weder eine Interpretationshypothese mit werkexternem Bezug (1), noch ein werkimmanenter Deutungsvorschlag (2) a priori zu favorisieren.

Trotzdem scheint (1) im Popper’schen Kontext weniger plausibel zu sein als (2). Warum? Zunächst einmal wird Bubers Vorschlag explizit in seine religionsphilosophische Theorie eingebettet.[35] Dadurch schließt er von der konkreten Aussage im Text über „diesen Mann vom Lande” auf eine allgemeine Lehre für jeden Leser: „So ʼthe doorʽ is still open; indeed, every person has his own door and it is open to him; but he does not know this and apparently is not in a condition to know it“.[36] Dieser weite Bezugsrahmen sowie die induktiv gewonnenen Interpretationsergebnisse lassen das Konstrukt zumindest im Vergleich zu Deinerts Vorgehensweise weniger plausibel erscheinen. Deinert schränkt seine Kontextualisierung auf das gesamte Werk Kafkas ein und integriert die Parabel in den gesamten Erzählzyklus. „Er bemüht sich nachzuweisen, wie gerade darin, daß die Parabelform in die Irre führe, die totale Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck kommt.“[37] Wie ist das begründet? Zunächst einmal weckt die Form der Parabel berechtigt Hoffnung auf Klärung einer nicht durchschaubaren beziehungsweise scheinbar ausweglosen Situation. Ein klassisches Beispiel aus der Literaturgeschichte wäre die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“. Dieser Verweis würde, wenn man die formalen Eigenschaften genau betrachtet und diese ausbuchstabiert, im Sinne der Popper’schen Theorie widerlegbar sein. Auch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Figuren, welche in ihrer Hoffnung auf Klarheit enttäuscht und durch das Erzählen einer für sie geradezu sinnlosen Parabel provoziert werden, einen frustrierten Gemütszustand annehmen.

Weiterhin lohnt ein Blick auf die Symbolik des Dargestellten. Das Gesetz erschient hier als eine beinahe physische Instanz an die sich der Mann vom Lande körperlich nähern kann. Doch was ist diese Instanz überhaupt? Laut Buber stellt sie die „göttliche Bestimmung“ dar, laut Deinert ist sie „nicht identifizierbar“. Die „göttliche Bestimmung“ scheint also eine metaphysische Entität zu sein. Wenn dem so ist, verlässt der Interpret den Bereich der Erkenntnis, der auf objektiver Erfahrung gegründet ist. Streng genommen begibt sich eine Interpretation auf Basis einer solchen Aussage laut Popper in den Bereich der Pseudo-Wissenschaft, sie genügt seinem Abgrenzungskriterium nicht. Deinerts Hypothese scheint zwar im Hinblick auf die gesamte Kohärenz der Interpretation unbefriedigend zu sein, weil sie so den Anspruch der Vollständigkeit nicht genügt, lässt jedoch Anknüpfungspunkte für spätere „Versuche“ offen. Der Status der Unbestimmtheit einzelner Elemente wird oft als Makel innerhalb eines Argumentationszusammenhanges bewertet, wird aber, insofern die Lücken nicht allzu viel Raum einnehmen, von Popper nicht negativ beurteilt. Schließlich unterstreicht dies den dynamischen Prozess innerhalb der Fortentwicklung von Problemsituationen, hin zur (vorläufigen) Lösung des Problems.

Poppers Theorien – bahnbrechend für die Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert. Wie ist es in den Geisteswissenschaften?


Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass man die meisten hermeneutischen Behauptungen eben nicht falsifizieren kann. Zudem gilt der Ratschlag an Interpreten, wenngleich sie um die Probleme einer äußerst schwierigen Anwendung der Popper’schen Wissenschaftstheorie auf die Hermeneutik wissen, die wissenschaftliche Qualität dahingehend zu wahren, dass den getroffenen Aussagen widersprochen werden kann. Da die „experimentelle Versuchsanordnung“ in der Literaturwissenschaft sich nur auf die Diskussion von Interpretationshypothesen beschränken kann, wird sich – um mit Thomas S. Kuhn zu sprechen – wahrscheinlich nie ein Paradigma der Textinterpretation herausbilden. Die Grundlagendiskussion bleibt also im Mittelpunkt. Hier kann man jedoch die Herausbildung einiger Schulen beobachten[38]. Der Popper’sche Standpunkt führte nicht zur Herausbildung einer solchen Denkrichtung, zumindest nicht in dem Maße, wie es benötigt wird, um von einer eigenständigen Literaturtheorie sprechen zu können. Oft werden einzelne Aspekte seiner Theorie ausgewählt und Versuche unternommen, diese mit literaturwissenschaftlichen Problemen zu verknüpfen. Dieser Weg wurde auch in der vorliegenden Arbeit beschritten. Zweifelsohne war die Auseinandersetzung mit Argumenten aus dem Bereich des kritischen Rationalismus für die zukünftige Interpretationspraxis gewinnbringend. Auf dieser Basis lässt sich jedoch meines Erachtens keine kohärente und konsistente Gesamtinterpretation eines literarischen Werkes anfertigen. Eine wirkliche Bereicherung ist hingegen, dass Popper mit seinen Analysen klar und deutlich ausbuchstabiert hat, wo das Wissen aufhört und der Glaube beginnt. Seine Maximen lassen Raum für kreative Ansätze und verbannen im selben Zug unzulässige Annahmen aus dem (literatur)wissenschaftlichen Betrieb.

 

Literaturverzeichnis

Andringa, Els: Wandel der Interpretation. Kafkas "Vor dem Gesetz" im Spiegel der Literaturwissenschaft, Opladen 1994.

Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar 2007.


Eibl, Karl: Zur Funktion hermeneutischer Verfahren innerhalb der Forschungslogik einer empirisch-theoretischen Literaturwissenschaft, in: Ulrich Nassen (Hrsg.): Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik, München 1979, S. 48-61.

Eibl, Karl: Sind Interpretationen falsifizierbar?, in: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, Stuttgart 1992, S. 169-184.

Eibl, Karl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte - und 'Das Warum der Entwicklung', in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21 (1996), H. 2, S. 1-26.

Fricke, Harald: Von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie der Kunst. Wie Goethe, Popper, Philosophie und Philologie zusammenhängen, in: Uta Klein (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur [Karl Eibl zum 65. Geburtstag], Paderborn 2006, S. 375-391.

Pies, Ingo; Leschke, Martin (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999.

Popper, Karl: Logik der Forschung, Tübingen 2002.

Popper, Karl: Zur Theorie des objektiven Geistes [1968], in: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1995 [zuerst 1972], S. 158-197.

 

Werle, Dirk: Die Begriffe ›Konjektur‹ und ›Krux‹ bei Karl Popper und ihr Nutzen für die literaturwissenschaftliche Terminologie, in: Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth und Irmgard M. Wirtz (Hrsg.): Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie, Göttingen 2010, S. 129-141.

 


[1] Karl Popper: Zur Theorie des objektiven Geistes. S. 167ff.

[2] Ebd. S. 158.

[3] Ebd. S. 160

[4] Karl Popper: Zur Theorie des objektiven Geistes. S. 161f.

[5] Karl Popper: Logik der Forschung. S. 15.

[6] Vgl.: Karl Popper: Zur Theorie des objektiven Geistes. S. 170f.

[7] Karl Popper: Logik der Forschung. S. 5. Hier aus Platzgründen nur auf das Kernargument gegen die Induktionslogik beschränkt.

[8] Ebd.: S. 7.

[9] Dirk Werle: Die Begriffe „Konjektur“ und „Krux“ bei Karl Popper und ihr Nutzen für die literaturwissenschaftliche Terminologie. S.132.

[10] Vgl.: Karl Popper: Logik der Forschung. S. 60f.

[11] Dirk Werle: Die Begriffe „Konjektur“ und „Krux“ bei Karl Popper. S.137.

[12] Karl Eibl: Zur Funktion hermeneutischer Verfahren innerhalb der Forschungslogik einer empirisch-theoretischen Literaturwissenschaft. S.51.

[13] Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte - und 'Das Warum der Entwicklung'. S.13.

[14] Harald Fricke: Von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie der Kunst. S. 390. Ob sich jedoch jede zunächst unwahrscheinliche These das Prädikat „kühn“ anheften darf, bleibt fraglich.

[15] Vgl.: Karl Popper: Logik der Forschung. S. 31.

[16] Vgl.: Karl Popper: Logik der Forschung. S. 67f.

[17] Vgl.: Karl Popper: Logik der Forschung. S. 67f.

[18] Vgl.: Karl Eibl: Zur Funktion hermeneutischer Verfahren. S. 49.

[19] Vgl.: ebd. S.56ff.

[20] Karl Eibl: Sind Interpretationen falsifizierbar? S.174.

[21] Vgl.: ebd. S. 171.

[22] Eibl versucht dieser Tendenz zunächst durch die Beseitigung zweier „optischer Täuschungen“ entgegenzuwirken (ebd. S. 177). Die Widerlegung der ersten Täuschung legitimiert meines Erachtens jedoch den Interpreten samt seiner Thesen nur vor sich selbst, nicht jedoch vor der scientific community. Die Art der Beseitigung der zweiten Täuschung scheint mir nicht zwingend, wenngleich eben diese Beseitigung für ein Verwenden der Popper’schen Theorie in der Literaturwissenschaft wichtig wäre.

[23] Vgl.: Karl Eibl: Sind Interpretationen falsifizierbar? S. 178.

[24] Darauf bezieht sich auch Eibl, indem er diesem Modell eine Interpretationskultur zugrunde legt, welche darauf verzichtet, das Ergebnis einer hermeneutischen Untersuchung einer Individualinspiration des Interpreten zuzuschreiben.

[25] So geschehen bei Karl Eibl: Sind Interpretationen falsifizierbar? S. 182.

[26] Karl Popper: Zur Theorie des objektiven Geistes. S. 161f.

[27] Dirk Werle: Die Begriffe „Konjektur“ und „Krux“ bei Karl Popper. S.139.

[28] Karl Popper: Zur Theorie des objektiven Geistes. S. 167.

[29] Vgl.: ebd. S. 168.

[30] Dirk Werle: Die Begriffe „Konjektur“ und „Krux“ bei Karl Popper. S.139.

[31] Metzler Lexikon Literatur. S. 595f, Artikel: „Poetizität“.

[32] Ingo Pies; Martin Leschke (hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999, S. 15.

[33]Vgl.: Els Andringa: Wandel der Interpretation. Kafkas "Vor dem Gesetz" im Spiegel der Literaturwissenschaft, Opladen 1994. S. 5f. Interessanterweise taucht Popper in diesem Buch nur an drei Stellen auf (S. 28/30/63) und dort nur mit Allgemeinplätzen seiner Theorie. Karl Eibl wird hingegen gar nicht in diesem Band erwähnt.

[34] Vgl.: ebd.: S. 105.

[35] Vgl.: Els Andringa: Wandel der Interpretation: S. 89.

[36] Ebd.: S. 88.

[37] Ebd.: S. 95.

[38] „Schulen“ soll hier als Überbegriff für retrospektive Begriffe wie „Poststrukturalismus“ oder „Russischer Formalismus“ stehen.

 

 

Florian Michael Matthes studiert im Master-of-Education-Studiengang an der Universität Leipzig die Fächer Deutsch und Ethik/Philosophie.

 


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