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Muss sich von Eibl die Kritik der Immunisierung gefallen lassen: Georg Lukács. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-15304-0097 / CC-BY-SA via Wikimedia Commons
Muss sich von Eibl die Kritik der Immunisierung gefallen lassen: Georg Lukács. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-15304-0097 / CC-BY-SA via Wikimedia Commons

 

Karl Eibls Kritik an den ›Immunisierungen‹ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Disziplinen

 

von Florian Grundei

 

Ausgangspunkt aller Überlegungen in den Schriften Karl Eibls ist das Problem eines Zugangs zu einer neuen Form von Geschichts- und damit auch von Literaturgeschichtsschreibung, die sich abgrenzt von bestimmten metaphysischen Interpretationsschemata und -mustern. In diesen bestimmten Schemen und Mustern konstatiert Eibl Tendenzen einer Immunisierung und ungerechtfertigten Transformation von Ideologien. Sein Bestreben gilt daher einer neuen, »erklärenden Literarhistorie«,[1] die als »theoretisch-empirische Wissenschaft«[2] verstanden werden soll. Dabei vollzieht er in seiner ersten Hauptschrift von 1976 den ersten Schritt hin zu einer »kritisch-rationalen Literaturwissenschaft«, ehe er in seinen folgenden Schriften aus den Jahren 1995, 2004 und 2009 weitergeht und die Literaturwissenschaft auf gänzlich biologische Füße zu stellen versucht.[3]

            Vor dem Problem der Tendenz zur Immunisierung innerhalb der Wissenschaften standen – wie oben gezeigt – auch Wissenschaftstheoretiker wie Karl R. Popper; es ist daher naheliegend, dass Eibl wiederum versucht, die Popper’schen Prämissen des wissenschaftlichen Arbeitens auf die Literaturwissenschaft zu übertragen. Eibl sieht es als problematisch an, dass die Literaturgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts maßgeblich von ideologischen Theorien Hegels, Marx’ und Lukács’ beeinflusst wurde, dass sie sich gleichfalls jedoch auch innerhalb der hermeneutischen Schule nach Schleiermacher, Dilthey und Gadamer ideologisiert und innerhalb der entstandenen Schulen immunisiert habe. Hierdurch sei eine Dynamik der Unumstößlichkeit innerhalb bestimmter Theorien entstanden, die einen pluralen Diskurs der Stimmen und wissenschaftlichen Fortschritt durch diesen verhindere.[4] Die Literatur als Gegenstand ist für Eibl aufgrund ihrer Individualität und der »Eigenkomplexität der Werke«[5] ungeeignet dazu, mit einem Mantel an theoretischen Konstrukten belegt zu sein, die vom Allgemeinen auf das Einzelne – also deduktiv – hergeleitet wurden. Diese Art der Herleitung unterstellt Eibl der ideologisierten Literaturwissenschaft: Sie ist für ihn nicht mehr als eine Pseudowissenschaft, da ihr die Fähigkeit zur Kritisierbarkeit und zur Falsifizierbarkeit und damit auch zur Reformierbarkeit fehle, sie sich durch Immunisierungen und Instrumentalisierung ihres Gegenstandes von diesem distanziert und gleichzeitig alles vereinnahmt bzw. abgestoßen habe, was in ihr jeweiliges ideelles Konzept zu passen scheine oder eben nicht. Diese Kritik Eibls erscheint bspw. bei der Lektüre von Georg Lukács’ »Theorie des Romans« und dessen apodiktischer Rhetorik nicht eben unberechtigt. Lukács’ schreibt:


»[D]er Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen. (...) Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung mit einbezogen werden und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden.«[6]

 

Als Forschungsgrundlage und Beweggrund für die Entwicklung einer ›kritisch-rationalen‹ und biologischen Literaturwissenschaft betrachtet Eibl bestimmte etablierte Vorgänge, Denkweisen und Methoden innerhalb hermeneutischer Schulen – besser vielleicht mit Kuhn: hermeneutischer Matrizen – der Literaturwissenschaft und kritisiert diese als ›positivistisch‹. Im Grunde vollzieht er dies analog zur Kritik Poppers am oben dargestellten präkantianischen Wahrheitspostulat in den Schriften Hegels und Marx’. Deshalb verweist Eibl auf die mangelnde empirisch-analytische Basis ihres Ansatzes, die schließlich zu fundamentalen Fehlinterpretationen führte:


»Dieses Scheitern [des literaturwissenschaftlichen Positivismus, Anm.d.Verf.] aber rührt nicht von irgendwelchen ›ontologischen‹ Ursachen her. Es rührt daher, daß der literaturwissenschaftliche Positivismus eine falsche Deutung der Naturwissenschaften übernahm, und daß die Fehler dieser Deutung sich im humanwissenschaftlichen Bereich ungleich stärker auswirkten als im naturwissenschaftlichen.«[7] [Hervorhebungen im Original.]

 

Eibl beschreibt dagegen in seinem Ansatz Diskurse und ihre Funktion als pluralen Ort der Stimmen. Dieser Ort der Stimmen entsteht stets als kollektiver Prozess, der allerdings durch den Prozess der individuellen Rezeption von Literatur gespiegelt wird, da unser Verhalten – so Eibl – stets rekurriere auf »drei Speicher«[8] des Wissens: diese bestehen aus dem »egoistischen«[9] menschlichen Genom und dem individuellen Gedächtnis als interne Speicher, sowie dem externen Speicher – »Diskurse, Bibliotheken, Filme, etc.«[10] – den der Mensch produziere.[11] Zudem spielen bei Eibl auch die Theorien der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann über das ›kulturelle Gedächtnis‹ und ›Erinnerungsräume‹, die sich vor allem mit kollektiven sozialen Formen des Erinnerns und Dokumentierens in der menschlichen Kultur befassen, eine wichtige Rolle in Bezug auf Diskurse und die Wirklichkeitswahrnehmung.[12]

            Eine deutliche Abgrenzung seiner biologischen Kulturtheorie vollzieht Eibl vor allem von den biologistischen Kulturtheorien Freud’scher Prägung und ihren Adepten,[13] die Triebstrukturen des Menschen mit bestimmten kollektiven Urszenen (Beispiel: Das Kind ertappt die Eltern beim Geschlechtsverkehr) in Verbindung bringen. Diese Urszenen sähe Freud als »singuläre Ereignisse«, welche »in die Erbmasse der gesamten Menschheit übergetreten sein«[14] sollen. Auch hier wird also der deduktive Ansatz Freuds deutlich kritisiert. Für Eibl ist dies nichts weiter als »biologischer Unsinn«.[15] Er stellt dem entgegen:


»Alle Triebe des Menschen können überhaupt nur unter Kulturbedingungen zu Handlungsantrieben werden. Die antagonistischen Dualismen sind zwar intuitiv recht plausibel. Aber sie entsprechen nicht dem tatsächlichen Verhältnis von Genen und Kultur«[16]

 

Freuds Ansatz ist folglich für Eibl in Bezug auf die Literaturwissenschaft schlichtweg unbrauchbar, da er deduktiv psychische Konstellationen herleitet und sich die Problemsituationen nicht aus einzelnen Ereignissen in der Literatur heraus, sondern aus einem bereits vorher erstellten Gerüst an Problemen ableiten.

            Eine Abgrenzung vollzieht Eibl ebenso zu den Theorien der diesem Kapitel vorangestellten russischen Formalisten, die den Begriff der Evolution beziehen auf die Entwicklung innerhalb des Systems Literatur, beispielsweise durch die Dynamisierung der Genres und der Sujets, oder durch die Ausdifferenzierung der Medien und Technologien unserer Kultur. Eibls Ansatz ist ein durchaus systematischer,[17] doch geht es ihm nicht um die Deskription dieser Systematik. Bei ihm wird der Begriff der Evolution terminologisch transformiert und im Grunde auf basalere diskursive Konstellationen gestellt, als im russischen Formalismus. Es geht Eibl vor allem um die Darstellung der Entstehung und Entwicklung von menschlicher Kultur und damit – im engeren Sinne – der Literatur und ihren Diskursräumen als Resultat genetischer Dispositionen und Adaptationen an die soziale Umwelt.[18]

 

 


[1] Vgl. Karl Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte. München: Wilhelm Fink / UTB, 1976, S.109. [Fortan: Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft]

[2] Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S.109.

[3] Dies bezieht sich auf folgende Monographien: Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt am Main: Insel, 1995. [Fortan: Eibl: Die Entstehung der Poesie], Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn: Mentis, 2004. [Fortan: Eibl: Animal Poeta] sowie in Karl Eibl: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009. [Fortan: Eibl: Kultur als Zwischenwelt]

[4] Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.36ff.

[5] Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.42.

[6] Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied/ Berlin: Luchterhand, 1965, S.57f.

[7] Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S.11.

[8] Eibl: Animal Poeta, S.88.

[9] Eibl: Animal Poeta, S.89.; vgl. auch Eckart Voland: Seine Kultur ist des Menschen Natur. In: Im Rücken der Kulturen. Herausgegeben von Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Paderborn: Mentis, 2007, S.11-30, hier S.15f.

[10] Eibl: Animal Poeta, S.88f.

 

[11] Nicht nehmen lässt sich Eibl den Hinweis auf die scheinbare Heterogenität und Inkommensurabilität dieser beiden Begriffe: Diskurstheorie und ›egoistisches Gen‹. Vgl. Eibl, Animal Poeta, S.89.

[12] Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.232; vgl. umfassend zum Thema Kulturgeschichte des Gedächtnisses: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck, 2006, zur Differenzierung der Formen des Gedächtnisses und zur Historiographie v.a. S.133-142.

[13] Eibls Kritik bezieht sich auf die Schriften »Totem und Tabu« sowie auf »Das Unbehagen in der Kultur« von Sigmund Freud sowie auf Marvin Harris’ »Kulturanthropologie«. Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.92-106, 163ff.

[14] Eibl: Animal Poeta, S.96.

[15] Eibl: Animal Poeta, S.96.

[16] Eibl: Animal Poeta, S.98.

[17] Vgl. hierzu Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.42-46.

[18] Vgl. hierzu Eibl: Kultur als Zwischenwelt, S.98f.

 

Florian Grundei ist Redakteur bei Texturen-online.

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