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Arthur Schopenhauer: Ueber Lesen und Bücher

[Kapitel XXIV von Parerga und Paralipomena II, Erstausgabe Berlin, A. W. Hayn 1851.]

§. 290.

Unwissenheit degradirt den Menschen erst dann, wann sie in Gesellschaft des Reichthums angetroffen wird. Den Armen bändigt seine Armuth und Noth; seine Leistungen ersetzen bei ihm das Wissen und beschäftigen seine Gedanken. Hingegen Reiche, welche unwissend sind, leben bloß ihren Lüsten und gleichen dem Vieh; wie man dies täglich sehen kann. Hiezu kommt nun noch der Vorwurf, daß man Reichthum und Muße nicht benutzt habe zu Dem, was ihnen den allergrößten Werth verleiht.

 

§. 291.

Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. Daher die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsren eigenen Gedanken zum Lesen übergehn. Eben daher kommt es auch, daß wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert, – wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist noch geisteslähmender, als beständige Handarbeit; da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann. Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremden Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt; so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn selbst das Gelesene eignet man sich erst durch späteres Nachdenken darüber an, durch Rumination. Liest man hingegen immerfort, ohne späterhin weiter daran zu denken; so faßt es nicht Wurzel und geht meistens verloren. Ueberhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders, als mit der leiblichen: kaum der funfzigste Theil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimilirt: das Uebrige geht durch Evaporation, Respiration, oder sonst ab.

Zu diesem Allen kommt, daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Wege gesehn, muß man seine eigenen Augen gebrauchen.

 

§. 292.

Keine schriftstellerische Eigenschaft, wie z. B. Ueberredungskraft, Bilderreichthum, Vergleichungsgabe, Kühnheit, oder Bitterkeit, oder Kürze, oder Grazie, oder Leichtigkeit des Ausdrucks, noch auch Witz, überraschende Kontraste, Lakonismus, Naivetät, u. dgl. m. können wir dadurch erwerben, daß wir Schriftsteller lesen, die solche haben. Wohl aber können wir hierdurch dergleichen Eigenschaften, falls wir sie schon als Anlage, also potentia, besitzen, in uns hervorrufen, sie uns zum Bewußtseyn bringen, können sehn, was Alles sich damit machen läßt, können bestärkt werden in der Neigung, ja, im Muthe sie zu gebrauchen, können an Beispielen die Wirkung ihrer Anwendung beurtheilen und so den richtigen Gebrauch derselben erlernen; wonach wir allerdings erst dann sie auch actu besitzen. Dies also ist die einzige Art wie Lesen zum Schreiben bildet, indem es nämlich uns den Gebrauch lehrt, den wir von unsern eigenen Naturgaben machen können; also immer nur unter der Voraussetzung dieser. Ohne solche hingegen erlernen wir durch Lesen nichts, als kalte todte Manier, und werden zu seichten Nachahmern.

 

§. 293.

Wie die Schichten der Erde die lebenden Wesen vergangener Epochen reihenweise aufbewahren; so bewahren die Bretter der Bibliotheken reihenweise die vergangenen Irrthümer und deren Darlegungen, welche, wie jene Ersteren, zu ihrer Zeit, sehr lebendig waren und viel Lerm machten, jetzt aber starr und versteinert dastehn, wo nur noch der litterarische Paläontologe sie betrachtet.

 

§. 294.

Xerxes hat, nach Herodot, beim Anblick seines unübersehbaren Heeres geweint, indem er bedachte, daß von diesen Allen, nach hundert Jahren, Keiner am Leben seyn würde: wer möchte da nicht weinen, beim Anblick des dicken Meßkatalogs, wenn er bedenkt, daß von allen diesen Büchern, schon nach zehn Jahren, keines mehr am Leben seyn wird.

 

§. 295.

Es ist in der Litteratur nicht anders, als im Leben: wohin auch man sich wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden ist, Alles erfüllt und Alles beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher, dieses wuchernde Unkraut der Litteratur, welches dem Waizen die Nahrung entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit des Publikums, welche von Rechtswegen den guten Büchern und ihren edelen Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen, oder Aemter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß unnütz, sondern positiv schädlich.

§. 296.

Es giebt, zu allen Zeiten, zwei Litteraturen, die ziemlich fremd neben einander hergehn: eine wirkliche und eine bloß scheinbare. Jene erwächst zur bleibenden Litteratur. Betrieben von Leuten, die für die Wissenschaft, oder die Poesie, leben, geht sie ihren Gang ernst und still, aber äußerst langsam, producirt in Europa kaum ein Dutzend Werke im Jahrhundert, welche jedoch bleiben. Die andere, betrieben von Leuten, die von der Wissenschaft, oder Poesie, leben, geht im Galopp, unter großem Lerm und Geschrei der Betheiligten, und bringt jährlich viele Tausend Werke zu Markte. Aber nach wenig Jahren frägt man: wo sind sie? wo ist ihr so früher und so lauter Ruhm?

 

§. 297.

In der Weltgeschichte ist ein halbes Jahrhundert immer beträchtlich; weil ihr Stoff stets fortfließt, indem doch immer etwas vorgeht. Hingegen in der Geschichte der Litteratur ist die selbe Zeit oft für gar keine zu rechnen; weil eben nichts geschehn ist: denn stümperhafte Versuche gehn sie nicht an. Man ist also wo man vor funfzig Jahren gewesen.

Dies zu erläutern, denke man sich die Fortschritte der Erkenntniß beim Menschengeschlechte unter dem Bilde einer Planetenbahn. Dann lassen sich die Irrwege, auf welche es meistens bald nach jedem bedeutenden Fortschritte geräth, durch Ptolemäische Epicykeln darstellen, nach der Durchlaufung eines jeden von welchen es wieder da ist, wo es vor dem Antritt derselben war. Die großen Köpfe jedoch, welche wirklich auf jener Planetenbahn das Geschlecht weiterführen, machen den jedesmaligen Epicyklus nicht mit. Hieraus erklärt sich, warum der Ruhm bei der Nachwelt meistens durch Verlust des Beifalls der Mitwelt bezahlt wird, und umgekehrt. – Ein solcher Epicyklus ist z. B. die Philosophie Fichte’s und Schelling’s, zum Schlusse gekrönt durch die Hegel’sche Karikatur derselben. Dieser Epicyklus gieng von der zuletzt durch Kant bis dahin fortgeführten Kreislinie ab, woselbst ich späterhin sie wieder aufgenommen habe, um sie weiter zu führen: in der Zwischenzeit aber durchliefen nun die besagten Scheinphilosophen und noch einige andere daneben ihren Epicyklus, der jetzt nachgerade vollendet ist, wodurch das mit ihnen gelaufene Publikum inne wird, daß es sich eben da befindet, von wo er ausgegangen war.

Mit diesem Hergange der Dinge hängt es zusammen, daß wir den wissenschaftlichen, litterarischen und artistischen Zeitgeist ungefähr alle 30 Jahre deklarirten Bankrott machen sehn. In solcher Zeit nämlich haben alsdann die jedesmaligen Irrthümer sich so gesteigert, daß sie unter der Last ihrer Absurdität zusammenstürzen, und zugleich hat die Opposition sich an ihnen gestärkt. Nun also schlägt es um: oft aber folgt jetzt ein Irrthum in entgegengesetzter Richtung. Diesen Gang der Dinge in seiner periodischen Wiederkehr zu zeigen, wäre der rechte pragmatische Stoff der Litterargeschichte: aber diese denkt wenig daran. Zudem sind, wegen der verhältnißmäßigen Kürze solcher Perioden, die Data derselben aus entfernteren Zeiten oft schwer zusammenzubringen: daher man am bequemsten die Sache an seinem eigenen Zeitalter beobachten kann. Wollte man hiezu ein Beispiel aus den Realwissenschaften; so könnte man die Werner’sche Neptunistische Geologie nehmen. Allein ich bleibe bei dem bereits oben angeführten, uns zunächst liegenden Beispiel. Auf Kant’s Glanzperiode folgte in deutscher Philosophie unmittelbar eine andere, in welcher man sich bestrebte, statt zu überzeugen, zu imponiren; statt gründlich und klar, glänzend und hyperbolisch, zumal aber unverständlich zu seyn; ja sogar, statt die Wahrheit zu suchen, zu intriguiren. Dabei konnte die Philosophie keine Fortschritte machen. Endlich kam es zum Bankrott dieser ganzen Schule und Methode. Denn im Hegel und seinen Gesellen hatte die Frechheit des Unsinnschmierens einerseits und die des gewissenlosen Anpreisens andererseits, nebst der augenfälligen Absichtlichkeit des ganzen saubern Treibens, eine so kolossale Größe erreicht, daß endlich Allen die Augen über die ganze Scharlatanerie aufgehn mußten, und als in Folge gewisser Enthüllungen, der Schutz von oben der Sache entzogen wurde, auch der Mund. Die Fichte’schen und Schellingischen Antecedenzien dieser elendesten aller je gewesenen Philosophastereien wurden von ihr nachgezogen in den Abgrund des Diskredits. Dadurch kommt nunmehr die gänzliche philosophische Inkompetenz der ersten Hälfte des auf Kant in Deutschland folgenden Jahrhunderts an den Tag, während man sich, dem Auslande gegenüber, mit den philosophischen Gaben der Deutschen brüstet. –

Wer nun aber zu dem hier aufgestellten allgemeinen Schema der Epicykeln Belege aus der Kunstgeschichte will, darf nur die noch im vorigen Jahrhunderte, besonders in ihrer französischen Weiterbildung, blühende Bildhauerschule des Bernini betrachten, welche, statt der antiken Schönheit, die gemeine Natur und, statt der antiken Einfalt und Grazie, den französischen Menuettanstand darstellte. Sie machte Bankrott, als, nach Winkelmanns Zurechtweisung, die Rückkehr zur Schule der Alten erfolgte. – Einen Beleg wiederum aus der Malerei liefert das erste Viertel dieses Jahrhunderts, als welches die Kunst für ein bloßes Mittel und Werkzeug einer mittelalterlichen Religiosität hielt und daher kirchliche Vorwürfe zu ihrem alleinigen Thema erwählte, welche jetzt aber von Malern behandelt wurden, denen der wahre Ernst jenes Glauben abgieng, die jedoch, in Folge des besagten Wahnes, den Francesco Francia, Pietro Perugino, Angelo da Fiesole und Aehnliche zu Mustern nahmen, ja, diese höher schätzten, als die auf sie folgenden eigentlich großen Meister. In Bezug auf diese Verirrung, und weil in der Poesie ein analoges Streben sich gleichzeitig geltend gemacht hatte, schrieb Göthe die Parabel: »Pfaffenspiel.« Auch diese Schule wurde sodann als auf Grillen beruhend erkannt, machte Bankrott, und auf sie folgte die Rückkehr zur Natur, sich kund gebend in Genrebildern und Lebensscenen jeder Art, wenn auch bisweilen sich ins Gemeine verirrend.

Dem geschilderten Hergange der menschlichen Fortschritte entsprechend, ist die Litterargeschichte, ihrem größten Theile nach, der Katalog eines Kabinetts von Mißgeburten. Der Spiritus, in welchem diese sich am längsten konserviren, ist Schweinsleder. Die wenigen wohlgerathenen Geburten hingegen braucht man nicht dort zu suchen: sie sind am Leben geblieben, und man begegnet ihnen überall in der Welt, wo sie als Unsterbliche, in ewig frischer Jugend einhergehn. Sie allein machen die, im vorigen §. bezeichnete, wirkliche Litteratur aus, deren personenarme Geschichte wir, von Jugend auf, aus dem Munde aller Gebildeten, und nicht erst aus Kompendien, erlernen.

Wohl aber wünschte ich, daß ein Mal Einer eine tragische Litterargeschichte versuchte, worin er darstellte, wie die verschiedenen Nationen, deren ja jede ihren allerhöchsten Stolz in die großen Schriftsteller und Künstler, welche sie aufzuweisen hat, setzt, diese während ihres Lebens behandelt haben; worin er also uns jenen endlosen Kampf vor die Augen brächte, den das Gute und Aechte aller Zeiten und Länder gegen das jedes Mal herrschende Verkehrte und Schlechte zu bestehn hat; das Märtyrerthum fast aller wahren Erleuchter der Menschheit, fast aller großen Meister, in jeder Art und Kunst, abschilderte; uns vorführte, wie sie, wenige Ausnahmen abgerechnet, ohne Anerkennung, ohne Antheil, ohne Schüler, in Armuth und Elend sich dahingequält haben, während Ruhm, Ehre und Reichthum den Unwürdigen ihres Faches zu Theil wurden; wie jedoch, bei dem Allen, die Liebe zu ihrer Sache sie aufrecht erhielt, bis denn endlich der schwere Kampf eines solchen Erziehers des Menschengeschlechts vollbracht war, der unsterbliche Lorbeer ihm winkte und die Stunde schlug, wo es auch für ihn hieß:

 

„Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide,

Kurz ist der Schmerz, unendlich ist die Freude.“

 


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