Jurij N. Tynjanov
Jurij N. Tynjanov

Über den Russischen Formalismus I – Problemsituation, Kritik der Disziplin, Literatur und System

von Florian Grundei

 

Die Formalisten befinden sich in einer Problemsituation, welche durchaus vergleichbar ist zu jener, in der auch die später folgenden Wissenschaftstheoretiker um Karl R. Popper stehen: Sie halten ihre eigene Disziplin für ideologieanfällig. Die Kritik der Formalisten zielt vor allem auf bestimmte Interpretationsmuster, die sie als deduktiv über die Literatur gestülpt werten, sodass diese sich – vor allem in der symbolistischen Theorie der Kunst[1] – selbst soweit von ihrem Gegenstand entfernt, dass das »poetische Wort« in den »Fesseln philosophischer und religiöser Tendenzen«[2] liege, es also nur noch ein Zerrbild seiner selbst darstellt. Für die Formalisten kann es keine literaturwissenschaftliche Methode geben, die die allumfassende finale Interpretation zur Lösung der Probleme innerhalb eines Textes liefert – genauso wenig kann dies jedoch eine ausschließlich auf biographische und soziale Kontexte beschränkte Interpretation leisten, deren Begründungszusammenhänge sich ebenso vom eigentlichen Gegenstand der Betrachtung, der Literatur selbst als sprachliche Konstruktion, distanziert haben. Das zentrale Anliegen der Formalisten besteht daher darin, die Literatur selbst zu betrachten, ihre einzigartigen Eigenschaften zu beschreiben, ihre sogenannte »Literarizität«[3]– ein Begriff Roman Jakobsons, der mit Luhmann als selbstreferentiell, sich auf den Gegenstand selbst beziehend, bezeichnet werden kann.

                  Die Rhetorik, die die Formalisten zur Begründung ihres Anliegens wählen, ist eine Rhetorik des ›Kampfes‹.[4] Dieser von den Formalisten aufgegriffene Kampfbegriff kann durchaus im Darwin’schen Sinne aufgefasst werden. Es gilt für die Formalisten der Anspruch, die dominante Schule innerhalb ihrer Disziplin zu werden, um die Tendenz, dass die Literaturwissenschaft ausschließlich »künstliche Gruppierungen erfind[et]«[5] und »die ›Ideologien‹ ausweglos überspitz[t]«,[6] einzudämmen. Es kann hier kritisch eingewendet werden, dass diese Methode selbst mit ideologischen Mitteln – bspw. im polemischen Stil, der insbesondere bei Eichenbaum oft zu finden ist[7] – vollzogen wird. Milder klingt die These, dass hier ein weiterer Schritt hin zu einer gänzlich empirisch-textimmanenten Literaturgeschichtsschreibung versucht wird, wie sie beispielsweise im ›New Criticism‹ entworfen wird (›close reading‹-Methode).[8] Die Abgrenzung der Formalisten gegen die traditionelle Hermeneutik wird auch durch ihren eigenen wissenschaftlichen Stil deutlich: dieser besteht meist in kürzeren essayistischen Abhandlungen, deren Stil oft selbst prosaisch wirkt.

                  Die Vorstellung wissenschaftlicher Disziplinen, literarischer Strömungen oder anderer sozialer Elemente der Wirklichkeit als kämpfende und streitende Widerparte ist eine dezidiert systematische Vorstellung. Es gibt in den Augen der Formalisten Systeme der Literatur und Systeme der Literaturwissenschaft. Diesen Systemcharakter erkennen die Formalisten in der Literatur sowohl im makrostrukturellen Bereich als kanonisiertes System von Werken, als auch im mikrostrukturellen Bereich in der Betrachtung des literarischen Einzelwerkes innerhalb eines spezifischen Kontextes.[9] Der Systemcharakter ist insbesondere für die im folgenden Text (Über den Russischen Formalismus II) vorgenommene Darstellung der literarischen Evolution von Wichtigkeit.[10] Durch das Postulat des Systems als makro- und mikrostrukturelles – also organisches – Konstrukt kann festgestellt werden, dass die biologischen Theorien und damit auch die Evolutionslehre auf die formalistische Theorie Einfluss ausgeübt hat. Michael Fleischer beschreibt die formalistische Vorstellung des Systems der Literatur als »traditionsgebundene[n] Kanon von Generierungsregeln«.[11] Die Evolution in der Literatur vollzieht sich in der formalistischen Methode stets in der Ablehnung bestimmter ›Generierungsregeln‹ durch neue Formen und Verfahren.

                  Die formalistische Schule ›kämpft‹ also gegen andere Schulen, weil sie – mit Thomas S. Kuhn formuliert – bestimmte theoretische, terminologische und methodologische Prämissen in einer literaturwissenschaftlichen Matrix nicht mehr hinnehmen kann und will, sie grenzt sich ab und baut wiederum selbst an ihrem eigenen Theoriegebäude. Bei den Formalisten soll sich dieses – wie dargestellt – eben vor allem aus den Komponenten konstituieren, die ihnen ihr Forschungsgegenstand selbst bietet:


Die sogenannte ›formale Methode‹ hat sich nicht als Folgeerscheinung eines besonderen ›methodologischen Systems‹ herausgebildet, sondern im Kampf um die Selbständigkeit und Konkretisierung der Literaturwissenschaft. Der Begriff der Methode hat sich ungebührlich erweitert. Das für die ›Formalisten‹ entscheidende Problem ist nicht die Frage nach möglichen Methoden zur Erforschung der Literatur, sondern nach der Literatur als einem Gegenstand der Forschung. Wir sprechen und streiten gar nicht über Methodologie. Wir sprechen von einigen theoretischen Grundsätzen, die uns nicht irgendein fertiges methodologisches oder ästhetisches System nahelegt, sondern die Untersuchung des konkreten Materials mit seinen hervorragenden Besonderheiten.[12]

 

Anders als Walter Benjamin sehen die Formalisten in der technologischen Ausdifferenzierung der Künste nicht den »Schein der Autonomie« des jeweiligen Kunstwerks »erloschen«,[13] sie betrachten den technologischen Wandel als positives Element, der eine Transformation des Literarischen in ein neues Medium ermöglicht. So stehen die Formalisten beispielsweise dem Medium Film keineswegs skeptisch gegenüber. Jurij Tynjanov sieht in der Kunst den entscheidenden Einflussfaktor für die Technik und konstatiert in der »Simultaneität (...) mehrerer Reihen visueller Vorstellungen«[14] eine positive Ausweitung der allgemeinen sinnlichen Erfahrbarkeit der Wirklichkeit. Hans Günther sieht in der Herausstellung der »ästhetische[n] Funktion als grundlegende[n] Funktion der Kunst«[15] eine wesentliche Leistung der Formalisten. Die technische Betrachtung der Produktion des Materials, der Literatur, erachtet Günther als hilfreich, um einen neuen wissenschaftlichen Zugang zur Literatur zu finden. Es überrascht hingegen nicht, dass sich frühe Formalisten wie Roman Jakobson in ihrer späteren Forschung ganz der Linguistik zuwenden, dies begründet auch durch die Betrachtung der Literatur als sprachliche Funktion, die mit bestimmten technischen Verfahren arbeitet.

 

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Literatur zum Russischen Formalismus: Eine Auswahl aus Primär- und Sekundärliteratur.

 

Eichenbaum, Boris: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965.

 

[Eichenbaum], Boris: Das Literarische Leben. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter. München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.463-481.

 

Fleischer, Michael: Die Evolution der Literatur und Kultur. Grundsatzfragen zum Entwicklungsproblem (ein systemtheoretisches Modell). Bochumer Beiträge zur Semiotik, 16. Bochum: Dr. Norbert Brockmeyer, 1989.

 

Günther, Hans: Struktur als Prozeß. Studien zur Ästhetik und Literaturtheorie des tschechischen Strukturalismus. München: Wilhelm Fink, 1973.

 

Günther, Hans: Evolution. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Bd.1, Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 2007, S.530f.

 

Jakobson, Roman: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Bd. 1, gemeinsam mit Sebastian Donat herausgegeben von Hendrik Birus. Berlin/ New York: De Gruyter, 2007.

 

Lachmann, Renate: Die »Verfremdung« und das »Neue Sehen« bei Viktor [Schklowskij]. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Karl Maurer, 3. Bd., Jahrgang 1970, München: Wilhelm Fink, S.226-249.

 

Schklowskij, Viktor: Von der Ungleichheit des Ähnlichen in der Kunst. Herausgegeben und übersetzt von Alexander Kaempfe. München: Carl Hanser, 1973.

 

[Schklowskij], Viktor: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter. München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.38-121.

 

[Schklowskij], Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter. München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.5-35.

 

Striedter, Jurij: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolutuion. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter, München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.IX-LXXXIII.

 

Tynjanov, Jurij N.: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967.

 

Tynjanov, Jurij N.: Über die Grundlagen des Films. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Karl Maurer, 3. Bd., Jahrgang 1970, München: Wilhelm Fink, S.510-563

 

 

Es folgt: »Der russische Formalismus, das ›literarische Verfahren‹ und die ›literarische Evolution‹«

 

Florian Grundei ist Redakteur bei Texturen-Online.

 

 



[1] Abgelehnt wird von den Formalisten das symbolistische Verständnis von Kunst als Form der Dekadenz und eines demonstrativen Außenseitertums. Vgl. zum russ. Symbolismus: Fridrun Rinner: Modellbildungen im Symbolismus. Ein Beitrag zur Methodik der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Heidelberg: Carl Winter, 1989, hier v.a. S.90-101.

[2] Boris Eichenbaum: Die Theorie der formalen Methode. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965, S.7-52, hier S.12. [Fortan: Eichenbaum: Die Theorie der formalen Methode]

[3] Roman Jakobson: Die neueste russische Poesie. Erster Entwurf. Annäherungen an Chlebnikov. In: Ders.: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Bd. 1, gemeinsam mit Sebastian Donat herausgegeben von Hendrik Birus. Berlin/ New York: Walter de Gruyter, 2007, S.1-123, hier S.17.

[4] Im Übrigen gibt es auch bei Karl R. Popper noch diese Kampfrhetorik, vgl. Kap. 2.1.

[5] Boris [Eichenbaum]: Das Literarische Leben. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter. München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.463-481, hier S.481. [Fortan: Eichenbaum: Das Literarische Leben]

[6] Eichenbaum: Das Literarische Leben, S.481.

[7] Vgl. bspw. Boris Eichenbaum: Auf der Suche nach den Gattung. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965, S.79-84, hier S.79f.

[8] Vgl. hierzu bspw. William Empsons 1930 erstmals erschienener Versuch einer strukturellen Analyse textlicher ›Ambiguitäten‹: William Empson: Seven Types Of Ambiguity. London: Chatto and Windus, 1953.

[9] Vgl. Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Herausgegeben und eingeleitet von Jurij Striedter. München: Wilhelm Fink/ UTB, 1988, S.IX-LXXXIII, hier S.LVIII. [Fortan: Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution]

[10] Vgl. Jurij Tynjanov: Über literarische Evolution. In: Ders.: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, S.37-60, hier S.40. [Fortan: Tynjanov: Über literarische Evolution]

[11] Michael Fleischer: Die Evolution der Literatur und Kultur. Grundsatzfragen zum Entwicklungsproblem (ein systemtheoretisches Modell). Bochumer Beiträge zur Semiotik, 16. Bochum: Dr. Norbert Brockmeyer, 1989, S.83. [Fortan: Fleischer: Die Evolution der Literatur und Kultur]

[12] Eichenbaum: Die Theorie der formalen Methode, S.7.

[13] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S.22.

[14] Jurij N. Tynjanov: Über die Grundlagen des Films. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Karl Maurer, 3. Bd., Jahrgang 1970, München: Wilhelm Fink, S.510-563, hier S.517.

[15] Günther: Struktur als Prozeß, S.25.

 


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