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Mathematische Publikationen in Deutschland zwischen 1871 und 1949

von Philipp Ost

 

Mathematik zwischen 1871 und 1900

 

Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Mathematiker an deutschen Universitäten und Hochschulen überschaubar. 1873 gab es über 50 Lehrbeauftragte für Mathematik an deutschen Universitäten,1 hinzu kamen noch die Professoren an den polytechnischen Schulen. Auch an weiterführenden Schulen arbeiteten anerkannte Mathematiker, etwa Hermann Schubert am Johanneum in Hamburg. Wichtigste Zentren der Mathematik in dieser Zeit waren Berlin und Göttingen. Es gab eine große Rivalität zwischen diesen Standorten, die jeweils über eigene Zeitschriften verfügten. Die Zeitschrift der Berliner war das Journal für die reine und angewandte Mathematik. Sie wurde 1826 von August Crelle gegründet und ist auch unter dem Namen Crelles Journal bekannt. Göttinger Mathematiker publizierten vorwiegend in den Mathematischen Annalen, welche 1868 von Alfred Clebsch und dem in Leipzig wirkenden Carl Neumann ins Leben gerufen wurden.

 

Lehrbücher

 

Lehrbücher wurden von der Mathematikergemeinde zunächst belächelt. Sie grenzen sich durch ihre pädagogische Intention von anderen Veröffentlichungen ab, richten sich dabei aber nicht notwendigerweise nur an Schüler und Studenten. In den 1870er Jahren standen Lehrbücher nicht im Zentrum des Interesses. Zum einen herrschte die Auffassung, jedes Buch, welches einen wissenschaftlichen Sachverhalt darlege, sei für Studenten geeignet, zum anderen gab es von Seiten der Mathematik wenig Interesse an entsprechender Literatur. Diese Einstellung ändert sich einige Jahre später. Die mittlerweile geforderte wissenschaftliche Strenge erforderte spezielle Literatur, um diese dem wissenschaftlichen Nachwuchs näher zu bringen. Die unterschiedliche Auffassung von "Strenge" führte zum einen zu Kontroversen innerhalb der Mathematik, zum anderen kam Kritik auch von Ingenieuren und Technikern, insbesondere an den technischen Hochschulen, denen die Mathematikausbildung zu theoretisch und zu wenig an der Praxis orientiert war. Dies führte zu einem Zwiespalt innerhalb der mathematischen Gemeinschaft, wollte man doch den Einfluss auf die Ausbildung der Anwender nicht verlieren, andererseits aber auch die wissenschaftliche Strenge wahren. In der Folge erschienen mehrere Bücher, welche diese Kluft zu schließen versuchten. An dieser Stelle sei nur der von Arwed Fuhrmann verfasste dritte Band der Anwendungen der Infinitesimalrechnung in den Naturwissenschaften, im Hochbau und der Technik erwähnt, der 1899 bei Ernst & Sohn erschien. Fuhrmann vermittelte mit diesem Werk erfolgreich zwischen den beiden Lagern und fand insbesondere bei den Mathematikern ein interessiertes Publikum. Lehrbücher spielten auch eine große Rolle bei der Etablierung von Teildisziplinen. Sie spiegeln nicht nur den aktuellen Wissensstand wider, sondern beziehen aktuelle Forschungsergebnisse mit in die Darstellung des Themas ein. Adolf Knesers Lehrbuch der Variationsrechnung, 1900 erschienen bei Vieweg & Sohn, trug wesentlich zur Annerkennung der Variantionsrechnung als eigener Teildisziplin bei. Auch die Gruppentheorie verdankte ihre Anerkennung zu einem großen Teil den Lehrbüchern. Das Lehrbuch der Algebra, in zwei Bänden 1895 und 1896 bei Vieweg & Sohn erschienen, enthielt als erstes Buch eine ausführliche Darstellung der neuen Theorie. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich Lehrbücher als eigenständige Publikationsform etabliert. Es lag im Interesse der Mathematiker, den Markt für Lehrbücher zu bedienen; man versprach sich eine bessere Außendarstellung der Disziplin und eine festere Stellung im Umfeld der naturwissenschaftlich-technischen Fächer. Für die Verleger entwickelten sich die Lehrbücher immer stärker zu einer ernstzunehmenden Einnahmequelle.

 

Verlagshäuser in den Jahren 1871 bis 1918


Zum Ende des 19. Jahrhunderts waren gesammelte Werke ein wichtiger Punkt im Programm der Verlage. Bis etwa 1910 erschienen fast alle Werkausgaben im Auftrag oder auf Anregung wissenschaftlicher Akademien. Ausnahmen waren die Abhandlungen von Hermann Schwarz, die auf seine Anregung hin im Springer Verlag veröffentlicht und von diesem auch finanziert wurden, ebenso Bernhard Riemanns Gesammelte mathematische Werke, die 1876 von Richard Dedekind und Heinrich Weber bei Teubner veröffentlicht und privat finanziert wurden. Der Markt für mathematische Gesamtausgaben wurde von drei Verlagen dominiert: von etwa 1880 bis 1890 vom Georg Reimer Verlag, ab 1890 bis etwa 1914 vom Verlag Mayer & Müller und vor allem dem B.G. Teubner Verlag. Auch wenn das mathematische Programm sehr übersichtlich war, spielte der Verlag Friedrich Vieweg & Sohn bis 1890 ebenfalls eine Rolle, denn er hatte einige auflagenstarke Bücher bekannter Mathematiker, etwa Oskar Schlömilch und Heinrich Weber, im Programm. Heinrich Vieweg leitete den Verlag in dritter Generation, nach seinem Tod im Jahr 1890 verlor der Verlag zunehmend an Bedeutung. Neben den Gesamtausgaben waren Zeitschriften ein weiterer wichtiger Punkt im Verlagsprogramm. Der Georg Reimer Verlag hatte unter anderem das bekannte Journal für die reine und angewandte Mathematik im Programm. Ab 1886 war er Kommissionsverlag der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Der Verlag profitierte noch bis in die 1920er Jahre von dieser Verbindung, denn Ernst Reimer, der ab 1885 den Verlag in dritter Generation führte, verstand es nicht, den Kontakt mit den Verlagsautoren zu pflegen. Bei Teubner erschienen unter anderem die Mathematischen Annalen, die wichtigste wissenschaftliche Zeitschrift. Der Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung erschien zunächst bei Georg Reimer. Als dessen Druckerei an die Kapazitätsgrenze kam und nicht weiter ausgebaut wurde übergab die Deutsche Mathematiker-Vereinigung 1896 die Drucklegung des Jahresberichtes an Teubner, der über eine schnelle und gut ausgestattete Druckerei verfügte. Durch das große Engagement des Verlegers Alfred Ackermann-Teubner, konnte der Verlag sein Programm von etwa 250 mathematischen Titeln im Jahr 1891 auf etwa 1000 Titel im Jahr 1908 ausweiten. Der Rückzug des Georg Reimer Verlages kam dem Mayer & Müller Verlag zu gute. Er hatte ein umfangreiches Zeitschriftenprogramm vorzuweisen; der Verlag besaß in Deutschland das Alleinvertriebsrecht für das American Journal of Mathematics. Ab 1900 veröffentlichte der Verlag aber nur noch sporadisch mathematische Titel. 1916 wurde er von der Akademischen Verlagsgesellschaft übernommen, die damit in den mathematischen Markt einstieg. Bis 1914 spielte der Springer Verlag für die mathematische Literatur keine herausragende Rolle. Über den aufstrebenden Lehrbuchmarkt festigte der Verlag zunehmend seine Stellung.

 

Situation nach dem Ersten Weltkrieg

 

Nach dem Ersten Weltkrieg brach der mathematische Buchmarkt zusammen. Mehrere Ursachen waren dafür verantwortlich. Die gegen die deutsche Wissenschaftsgemeinde gerichteten internationalen Sanktionen wirkten sich auch auf die Verlagshäuser aus, da die internationalen Absatzmärkte wegbrachen. Deutsche Wissenschaftler und wissenschaftliche Gesellschaften wurden aus internationalen Gremien ausgeschlossen, daher waren Kontakte über die Landesgrenzen hinaus schwierig. Erst 1928 nahmen deutsche Mathematiker wieder am internationalen Mathematiker-Kongress teil. Zudem bereitete die Inflation große Schwierigkeiten; staatliche Förderung war kaum noch zu leisten. Wissenschaftliche Akademien, Gesellschaften und Forschungsinstitute konnten ihre Unterstützung ebenfalls nicht mehr aufrecht erhalten. Hinzu kam der Kaufkraftverlust: Bibliotheken, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen kündigten in großem Stil Zeitschriftenabonnements. Trotz steigender Studentenzahlen brach auch der Lehrbuchmarkt zusammen. Der mathematische Formelsatz erwies sich für die Verlage ebenfalls als Problem: das entsprechende Typenmaterial war teuer und nur wenige Druckereien verfügten darüber. Der Papierpreis war, im Vergleich zur Vorkriegszeit, um das 85fache gestiegen; das führte unmittelbar zu Preiserhöhungen bei Zeitschriften und anderen Periodika. Gleichzeitig stiegen die Löhne der Drucker und Setzer; diese wurden zum Teil durch Zuschüsse der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft aufgefangen. Für Autoren war es zunehmend schwieriger einen Verlag zu finden, welcher die für eine Veröffentlichung notwendigen Mittel zur Verfügung hatte. Da der Absatz mathematischer Werke stark zurückgegangen war, verhielten sich die Verleger sehr zurückhaltend mit der Veröffentlichung neuer Werke. Trotz der angespannten wirtschaftlichen Situation konnten sich die Verlage Springer, Akademische Verlagsgesellschaft und der neu gebildete de Gruyter Verlag auf dem Markt behaupten. Der B.G. Teubner Verlag verlor die Spitzenposition, welche er im Kaiserreich innehatte, veröffentlichte aber weiterhin auch mathematische Literatur.

 

Die Zeit des Nationalsozialismus

 

Im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenpolitik wurden bis 1937 fast 30% der an den Hochschulen Lehrenden entlassen.2 An einigen Hochschulen war die Mathematik kaum davon betroffen (etwa in Münster und Hannover), an anderen Standorten waren die Entlassungen verheerend: Göttingen verlor vier seiner fünf Ordinarien, das bedeutete das Ende der dortigen langen Mathematik-Tradition.3 Bis 1939 ging die Studierendenzahl drastisch zurück,4 die Mathematik stellte am Ende weniger als 10% der Studierenden. Damit fiel ein wichtiger Absatzmarkt mathematischer Literatur weg. Zunehmende politische Einflussnahme und der Umgang mit jüdischen Autoren und Mitarbeitern wurde für die Verlage ein weiteres Problem. Von Seiten des Regimes gab es zunächst keine Vorschriften, wie im wissenschaftlichen Bereich mit jüdischen Autoren und Herausgebern umzugehen sei. Die antisemitischen Strömungen gewannen ab 1933 zunehmend an Einfluss. Ab 1938 war es nicht mehr möglich, die Namen jüdischer Mathematiker auf den Titelblättern der von ihnen mitgegründeten oder -herausgegebenen Zeitschriften zu nennen. Der Springer Verlag musste sich aufgrund politischen Drucks zwischen 1933 und 1938 von 50 jüdischen Zeitschriftenherausgebern und -redakteuren trennen. Im September 1935 forderte die Reichsschrifttumskammer auf Grundlage des Reichsbürger-Gesetzes das sofortige Ausscheiden von Julius Springer aus dem Verlag. Während des Zweiten Weltkrieges kam nur spärlich Nachwuchs an die Universitäten, denn die Mehrzahl wurde eingezogen. Die verbleibenden Mathematiker wurden zu Kriegsforschungsaufgaben herangezogen, konnten sich somit dem Lehr- und Forschungsbetrieb nicht zuwenden. Aufgrund der Geheimhaltung der Ergebnisse und des Mangels an Papier waren die Publikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Die Spitzenposition, welche die deutsche Mathematik vor dem Krieg innehatte, konnte nicht gehalten werden.

 

Die Nachkriegszeit 1945 bis 1949

 

Nach dem Krieg stand die Mathematik in Deutschland vor einem Trümmerhaufen; es fehlte nicht nur an Personal, auch die internationalen Beziehungen mussten erst wieder aufgebaut werden. Wegen des Papiermangels konnten Fachzeitschriften nicht oder nicht in ausreichender Auflage gedruckt werden; es war daher schwierig, Originalarbeiten zu veröffentlichen. Zudem herrschte ein akuter Bedarf an Lehrbüchern, da die Vorkriegsbestände in privaten und öffentlichen Bibliotheken und bei den Verlagen weitgehend zerstört waren. Zu allem fehlten die entsprechenden Druckkapazitäten. Der Mangel an Lehrbüchern war ein großes Problem für den Unterricht, förderte allerdings auch die Bildung neuer Lehrbuchreihen von Verlagen, welche vor dem Krieg nicht im mathematischen Bereich aktiv waren. Am 12. Mai 1945 verordneten die Alliierten eine Publikationsgenehmigungspflicht. Verlage, die während des "Dritten Reiches" publizieren durften, sowie Verlage, die verboten waren, aber vor 1933 in bestimmten Nischen aktiv waren, hatten nach ihrer Lizenzierung bessere Chancen als Neugründungen. Bestehende Autorenkontakte oder -verträge boten eine gute Ausgangsbasis für einen schnellen Wiedereinstieg. Die sogenannten "Altverlage" konnten zum Teil auch noch auf Druckmatrizen aus der Vorkriegszeit zugreifen. Neu auf den Markt für mathematische Literatur drängende Verlage mussten zunächst Autoren gewinnen. Um möglichen Konkurrenten zuvorzukommen, waren die Verlage um eine schnelle Sicherung der Autorenrechte bemüht. Erst als sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in den Jahren nach 1949 besserten, begann die mathematische Kultur in Deutschland wieder aufzublühen. Die 1948 neugegründete Deutsche Mathematiker-Vereinigung hatte 1949 erst 275 Mitglieder und der hohe Stand von etwa 1100 Mitgliedern Anfang der 1930er-Jahre wurde erst wieder in den 1970er-Jahren erreicht.

 

 

Quellen

 

Hans Wußing, 6000 Jahre Mathematik, Eine kulturgeschichtliche Zeitreise, Springer Verlag, 2009

 

Volker Remmert und Ute Schneider, Publikationsstrategien einer Disziplin, Publikationsstrategien einer Disziplin – Mathematik in Kaiserreich und Weimarer Republik, Harrassowitz Verlag, 2008

 

Volker Remmert und Ute Schneider, Eine Disziplin und ihre Verleger, Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949, transcript Verlag, 2010

 

 

1 Es gab 23 Ordinarien, 17 Extraordinarien, 14 Lehrbeauftragte, Privatdozenten und Honorarprofessoren; diese Zahlen für 1873 bei Christian von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1956, S. 198 und 216. Zitiert nach Volker Remmert, Ute Schneider, Eine Disziplin und ihre Verleger, S. 15

2Von insgesamt 197 Lehrenden wurden 59 entlassen; diese Zahlen bei Martin Kneser, Norbert Schappacher, Fachverband – Institut – Staat, S. 21. Zitiert nach Volker Remmert, Ute Schneider, Eine Disziplin und ihre Verleger, S. 221

3a.a.O., S. 26-33 und S. 44-47

4Von 126.187 Studierenden im Jahr 1931 auf 52.003 Studierende im Jahr 1939; diese Zahlen bei Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1995, S. 487. Zitiert nach Volker Remmert, Ute Schneider, Eine Disziplin und ihre Verleger, S. 221

 

 

 

Philipp Ost studiert Mathematik am Karlsruher Institut für Technologie.

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