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Walter Benjamin an Max Horkheimer am 16.10.1935

Lieber Herr Horkheimer,

ich danke Ihnen vielmals für Ihren Brief vom 18. September. Natürlich war er für mich eine große Freude. Die Anzahl derer, vor denen meine Arbeit mich ausweisen kann, ist seit der Emigration klein geworden. Jahre und Lebenslage bewirken andererseits, dass diese Arbeit im Haushalt des Lebens einen immer größeren Raum einnimmt. Daher die besondere Freude durch Ihren Brief.

Gerade weil Ihr Stellungnahme zum Exposé von so großer Wichtigkeit ist und mir eine Hoffnung eröffnet, hätte ich diesem Brief gern jedes Eingehen auf meine Verhältnisse ferngehalten. In der Hoffnung auf ein "Wunder", die in solchen Fällen verzeihlich ist, habe ich ihn denn auch aufgeschoben. Nun aber, da ich den Ertrag einiger kleiner Geschichten, die ich für die Schweizer Presse geschrieben hatte, in einer Anzahl von Franken beisammen habe, die ich mir an den Fingern abzählen kann, ist auch ein Brief, der sich einmal gänzlich auf meine Arbeit beschränken könnte, ein unerschwinglicher Luxus geworden. Als ich das letzte Mal mit Herrn Pollock sprach, sagte ich ihm, dass mehr als das Ausmaß jeder gegenwärtigen Hilfe die Möglichkeit mir bedeute, in ausweglosen Situationen auf Sie zurückzugreifen. Er verstand das, und wenn die letzte Enscheidung des Instituts mir eine wirklich eingreifende Erleichterung für ein volles Vierteljahr brachte, so wird Sie das, wie ich zuversichtlich hoffe, nicht hindern, meine Sache im Sinn der Worte zu prüfen, die ich damals Herrn Pollock sagte.

Meine Situation ist so schwierig, wie eine Lage ohne Schulden es überhaupt sein kann. Ich will mir damit nicht etwa das geringste Verdienst zuschreiben, sondern nur sagen, dass jede Hilfe, die Sie mir gewähren, eine unmittelbare Entlastung für mich bewirkt. Ich habe, verglichen mit meinen Lebenskosten im April, als ich nach Paris zurückkam, mein Budget außerordentlich beschränkt. So wohne ich jetzt bei Emigranten als Untermieter. Es ist mir außerdem gelungen, Anrecht auf einen Mittagstisch zu bekommen, der für französische Intellektuelle veranstaltet wird. Aber erstens ist diese Zulassung provisorisch, zweitens kann ich von ihr nur an Tagen, die ich nicht auf der Bibliothek verbringe, Gebrauch machen; denn das Lokal liegt weit von ihr ab. Nur im Vorbeigehen erwähne ich, dass ich meine Carte d'Identité erneuern müsste, ohne die dafür nötigen 100 Francs zu haben. Auch den Beitritt zur Presse Étrangère, den man mir aus administrativen Gründen nahegelegt hat, habe ich, da die Gebühr 50 Francs beträgt, noch nicht vollziehen können.

Es ist an dieser Lage das Paradoxe, dass meine Arbeit wahrscheinlich nie einer öffentlichen Nützlichkeit näher gewesen ist als eben jetzt. Durch nichts ist Ihr letzter Brief mir so ermutigend gewesen als durch die Andeutungen, die er in diesem Sinn macht. Der Wert Ihrer Anerkennung is mir proportional der Beharrlichkeit, mit der ich in guten und bösen Tagen an dieser Arbeit festhielt, die nun Züge des Plans annimmt. Und zwar neuerdings in besonders entschiedener Gestalt.

Wenn Herr Pollock mir bei seinem Hiersein den Anstoß gab, das Exposé niederzuschreiben, so war Ihr letzter Brief die Veranlassung, das historische Bild der Sache, das nun provisorisch fixiert war, zugunsten konstruktiver Überlegungen beiseite zu setzen, die das Gesamtbild des Werkes bestimmen werden. So vorläufig nun Ihrerseits diese konstruktiven Überlegungen in der Gestalt sein mögen, in der ich sie fixiert habe, so darf ich doch sagen, dass sie in der Richtung einer materialistischen Kunsttheorie einen Vorstoß machen, der seinerseits weit über den Ihnen bekannten Entwurf hinausführt. Diesmal handelt es sich darum, den genauen Ort in der Gegenwart anzugeben, auf den sich meine historische Konstruktion als auf ihren Fluchtpunkt beziehen wird. Wenn der Vorwurf des Buches das Schicksal der Kunst im neunzehnten Jahrhundert ist, so hat uns dieses Schicksal nur deswegen etwas zu sagen, weil es im Ticken eines Uhrwerks enthalten ist, dessen Stundenschlag erst in unsere Ohren gedrungen ist. Uns, so will ich damit sagen, hat die Schicksalsstunde der Kunst geschlagen, und deren Signatur habe ich in einer Reihe vorläufiger Überlegungen festgehalten, die den Titel tragen "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Diese Überlegungen machen den Versuch, den Fragen der Kunsttheorie eine wahrhaft gegenwärtige Gestalt zu geben: und zwar von innen her, unter Vermeidung aller unvermittelten Beziehung auf Politik.

Diese Aufzeichnungen, die fast nirgends auf historisches Material Bezug nehmen, sind nicht umfangreich. Sie haben einen lediglich grundsätzlichen Charakter. Ich könnte mir denken, dass sie in der Zeitschrift an ihrem Platze wären. Was mich betrifft, so ist es selbstverständlich, dass ich diesen Ertrag meiner Arbeit von Ihnen am liebsten publiziert sähe. Keinesfalls will ich ihn drucken lassen, ohne Ihre Stimme darüber gehört zu haben.

Wenn Sie berücksichtigen, dass die erwähnten Arbeiten zeitlich im Hintergrund meines Tagesprogramms stehen, das in seinem Hauptteile von der Studie über Fuchs bestimmt wird, und dass ich späterhin einen Vortrag für das Institut des Études Germaniques vorbereite, so sehen Sie, dass meine Zeit gut ausgefüllt ist. Es wäre mir, um unter solchen Umständen einen Fixpunkt zu haben, lieb, wenn Sie selbst mir einen Termin für das Manuskript über Fuchs vorschlagen wollten.

Ein anderer und entscheidender Fixpunkt wird für mich Ihre Europareise sein. Ich bin gewiss, dass sich dann für uns die Gelgenheit zu einer eingehenden Beratung ergeben wird. Zu den Härten meiner hiesigen Existenz gehört auch die, über die wichtigsten Gedanken der Arbeit mich mit keinem Anwesenden verständigen zu können. In dem Stadium, in welchem sie sich befinden, darf ich mit ihnen nicht leichtfertig verfahren. Daher habe ich das Exposé niemandem hier gezeigt. Mir fiel in Ihrem Brief besonders ein Satz über das, was "nicht weggelassen werden darf", auf. Darüber hoffe ich von Ihnen, am liebsten mündlich, noch mehr zu hören.

Ich bin höchst gespannt auf Ihren Essay über Dialektik und hoffe vieles aus ihm zu lernen. Die beiden letzten Nummern der Nouvelle Revue Francaise bringen einen Aufsatz über das gleiche Thema. Ich habe ihn noch nicht gelesen, will ihn mir aber von Löwenthal erbitten. Gleichzeitig setze ich mich mit ihm wegen kritischer Arbeiten für den Besprechungsteil in Verbindung.

Ich gebe diesem Brief meine Hoffnung mit und meine herzlichsten Grüße.

 

Ihr

Walter Benjamin

 


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