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Josias Ludwig Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf

[Kopenhagen 1789, S. 77-89.]

 

Die menschliche Glückseligkeit sezt eine äusserst grosse Summe der verschiedenen Begriffe voraus. Ohne wechselseitige Mittheilung der Ideen würden die Menschen immer äusserst arm an denselben, würden sie immer äusserst elend bleiben.

 

Aber, in dem menschlichen Geist ist ja nichts, was nicht vorher in den Sinnen war. Die Töne der Sprache können also keine Vorstellungen von Dingen in uns erwecken, wenn wir nicht vorher Empfindungen gehabt, welche diesen Vorstellungen entsprechen. Wie ist es denn möglich, daß die Sprache soviel zu unserer Ideenbereicherung beitragen könne? Unser Geist erhält freilich von den Sinnen den Stof zu allen seinen Werken; aber er kan aus diesem aus eigener Kraft unzählige Komposizionen bilden. Aus tausend Vorstellungen von einzelnen Empfindungen können Millionen Zusammensetzungen hervorgebracht werden. Alle diese Bildungen, in irgend einem Geiste vollendet, können wir vermittelst der Töne oder ihrer Zeichen mit sehr weniger Mühe erhalten, wenn wir nur vorher die Grundstoffe dazu gesamlet haben. Eben durch die Uebertragung solcher Komposizionen wird auch zugleich die Samlung der Grundstoffe, die Beobachtung sehr erleichtert und befördert.

 

Fast unglaublich ist der Unterschied zwischen der Mühe, welche bei der Erfindung der Wahrheiten angewendet werden muß, und derjenigen, die bei der Erlernung derselben nöthig ist, wenn sie bereits von andern erfunden sind. Mehrere tausend Jahre verstrichen, ehe die Welt mit einem Genie beglückt wurde, das zu der Entdeckung von Amerika fähig war. Man weiß, wie der grosse Kolumbus alle seine Kräfte aufbieten mußte, um die unsäglichen Schwierikeiten zu überwinden, welche sich seiner grossen Unternehmung entgegenstelten. Jetzt wird die Reise nach Amerika ohne Umstände von dem gemeinsten handwerksmäsigen Schiffer unternommen. Eben so sehr wie in dem grossen Ozean übertrift in der geistigen Welt die Mühe der Entdeckung eines neuen Weges, die Mühe der Betretung desselben, wenn er bereits bekant ist. Die mathematischen Lehrsätze, deren Entdeckung Pythagoras, Archimed, Euklid oder Newton jahrenlange Anstrengung gekostet hat, erlernt jetzt ein Schulknabe in wenigen Wochen. Solten wir alle unsere Gedanken aus uns selbst hervorspinnen, da würde in der That, möchten wir auch mit dem unermüdesten Fleisse arbeiten, unser Leben viel zu kurz sein, als daß wir uns in demselben auch nur einige hundert recht wichtige Begriffe verschaffen könten.

 

Arme Menschheit! was wärest du dann, entbehrten die menschlichen Geister der Fähigkeit des Ideenwechsels. Einzelnd streiften die Menschen in den Wäldern herum. Sie hätten nicht Wohnungen, nicht Hausrath. Wurzeln und rohes Fleisch wären ihre Nahrung. Keine Kleider bedeckten ihren Leib. Braun verbrant von der Sonne wären ihre Glieder und schmutzig und rauh wie die Erde, worauf sie sich wälzten. Alle ihre Vergnügungen wären fast allein eingeschränkt auf gewisse Erschütterungen der Geschmacks- und der Gefühlnerven. Doch ich mag das schrökliche Gemählde von der Menschheit ohne Sprache und ohne Mittheilung der Ideen nicht weiter verfolgen. Ich wil, meine Leser, ihre weichen Seelen hier nicht an die traurigen Beispiele dieser Wahrheiten erinnern, welche uns Menschen gegeben haben, die ein hartes Schicksahl früh unter die Thiere hinwarf, die ohne Erziehung, ohne Umgang mit Menschen, die in der blossen Geselschaft der Thiere heranwuchsen. Eine angenehmere Unterhaltung als die Untersuchung des Elends, welches ohne die Mittheilung der Begriffe den Erdkrais bedecken würde, wird die Betrachtung der schönen Veränderungen sein, welche nun einmal durch sie die Zene des menschlichen Erdenwandels erhalten hat.

 

Mit dem Geiste sich an einen Geist schmiegen, hingeben an eine schöne Seele und wieder empfahen von derselben die innersten Gefühle des Herzens: o seliges Vergnügen, welche Sprache hat Worte dich zu beschreiben! das größte Glück würde mir schmackloos sein, sagte ein alter Philosoph, hätte ich nicht einen Freund, dem ich die Nachricht davon mittheilen könte. Vermöge der Mittheilung der Ideen kommen ganze Haufen menschlicher Geister in die genaueste Verbindung mit einander; die Fähigkeiten des einen werden auch Fähigkeiten des andern; jeder hat den Genuß von dem Erwerb des andern, ohne daß der Genuß des Erwerbenden selbst darunter leidet: mit einem Worte, vermöge der Mittheilung der Begriffe vervolkommen sich ganze menschliche Gattungen zugleich.

 

Vermöge der Mittheilung der Begriffe wird das menschliche Geschlecht einer fortschreitenden Vervolkommung fähig. Durch sie kommen die Geister, welche vor Jahrtausenden schon den Erdbal verliessen in Verbindung mit den gegenwärtigen Menschen: die folgende Generazion stützet sich immer auf die vorhergehende, ererbt von dieser den ganzen Schatz ihrer Begriffe, kan also fast alle Kräfte, welche sie den Ideenbearbeitungen widmet, nur dazu anwenden, Zusätze zu jenem Schatze zu samlen. Bei dieser Betrachtung scheint mir eine fortschreitende Vervolkommung des menschlichen Geschlechts allerdings Entwurf der Natur zu sein; aber leider ward sie von den Menschen selbst nur zu oft unterbrochen und aufgehalten. Die Regierer der Völker brauchten oft die Kräfte ihrer Unterthanen fast allein zur Hervorbringung der Gegenstände ihres eigenen Vergnügens und zur Ermordung der Menschen, liessen ihnen keine Zeit, ruhig die geistigen Schätze ihrer Väter zu geniessen. Despotismus, Hierarchie und Sklaverei brachten oft verhehrende Seuchen unter die menschlichen Geister, schwächten ihre Kräfte, machten sie unfähig zum Genug jener Güter. Ein schröckliches Ungewitter, von Tyrannen erregt, stürzte bisweilen die menschlichen Geister mit einmal von den seligen Höhen des Lichts wieder herunter, und ihre Nachkommen mußten Jahrhunderte herumtappen ehe sie sich einigermaassen aus den finstern Tiefen wieder hervorheben konten. Wir wollen für die Zukunft eine bessere Hofnung hegen. Wir wollen willig zur Erfüllung derselben unser Scherflein beitragen. Wir wollen nicht müde werden, alle unsere Kräfte zur Verbesserung der Menschheit anzuwenden, wieviele Hindernisse, Dumheit, Eigennutz und Unterdrückungsgeist auch unsern redlichen Absichten in den Weg legen mögen.

 

Bisweilen erregt die Natur auch absichtlich Stürme in der geistigen Welt. Das Klima von dieser bedarf oft eben so sehr einer Reinigung, als die Luft, welche die Körperwelt umgiebt. Die Geister, welche von Zeit zu Zeit die ersten Gründe des menschlichen Wissens wanckend machen, die seligsten Wahrheiten über den Haufen werfen wollen - als Spinoza, Berklei, Machiavel, Hobbes, u.d.m. - solche Geister muß man zu jenen Orkanen zählen, welche mit in den grossen Plan der Natur gehören. So wie die Stürme, welche die Bäume aus der Erde zu werfen drohen; oft nur zu ihrer Befestigung dienen, eben so verhält es sich oft auch mit den fürchterlichen Erschütterungen der ideellen Gewächse. Nur vermöge der verbundenen Anstrengung mehrerer Geister, mehrerer Geister aus verschiedenen Zeitaltern, werden die grossen Wahrheiten zu Stande gebracht, welche den Stolz der Menschheit ausmachen; durch viele Werkstätte menschlicher Geister müssen die Stoffe zu ihnen hindurchwandern, ehe sie die höchste Volkommenheit erreichen. Durch wieviele Hände muß nicht der Saft der Seidenraupe gehen, ehe daraus das Feierkleid einer Grazie wird? Wieviele Menschen mußten ihre Kräfte vereinigen, ehe die felsigten Säulen in den Tiefen des Erdbodens ihre Heimath verliessen und zu den ewigen Denckmählern des menschlichen Stolzes, den Pyramiden Aegyptens emporstiegen. Eben so müssen zu der Hervorbringung der Meisterstücke unserer idealischen Bildungen nothwendig viele menschliche Geister ihre Wirksamkeit verbinden. Einer bringt die Grundstoffe zusammen. Ein anderer wählt aus diesen das Brauchbarste aus. Wieder ein anderer verfertigt daraus Materialien, die dem vollendeten Werke schon näher kommen. Noch ein anderer setzt diese Materialien endlich zu einem volständigen Werke zusammen. Nun kommen noch verschiedene und bringen mancherlei Verschönerungen bei demselben an. Kepler bereichert unsere Theorie von der Schwere. Newton wendet sie auf das schönste an, uns die Bewegung der Himmelskörper zu erklären. Aristoteles und Gassendi haben eine gewisse dunkle Ahnung von dem Grundsatze, daß wir alle unsre Begriffe durch die Sinne erhalten. Loke erleuchtet ihn, in seinem berühmten Werke von dem Verstande, auf das helleste und entwickelt ihn auf das meisterhafteste. Spinoza komt zuerst auf den Gedanken, Körper und Geist könten wohl keinesweges auf einander wirken, jeder gehe wohl immer seinen eigenen Weg fort und entwickle sich vermöge seiner eigenen Triebfedern. Leibnitz errichtet einige Zeit hernach sein berühmtes System der vorherbestimten Harmonie. Bis auf Baumgarten waren sehr viele einzelne Bemerkungen über die Quellen des Schönen gemacht worden. Baumgarten führt zuerst ein systematisches Skelet über das Wesen der Schönheit auf. Sulzer, Moses Mendelsohn u.s.w. füllen es aus und beseelen es. Cartesius und Leibnitz bereichern die Philosophie mit einer Menge Begriffe. Wolf bringt diese in eine faßliche Ordnung und seine Werke kommen in alle Hände. Herder giebt ihnen das schönste Kleid, gewebt von den Händen der Grazien, schmückt sie mit mancherlei Blumen; und er bezaubert alle Seelen.

 

Wenn Jahrhunderte hindurch immer ein denkendes Geschlecht auf das andere folgt, dessen ganzen Schatz der Ideen erbt: dann entstehen endlich solche ehrwürdige Wesen, denen wir den Namen grosser Geister, aufgeklärter edler Männer geben. Ach! daß deren Anzahl immer noch so geringe ist! Laßt uns aber für unsere Enkel arbeiten. Unter ihnen werden vielleicht mehrere auftreten, die jenen ehrenvollen Namen verdienen.

 

Unser Gehirn ist ein Spiegel, welches der Seele die Merkwürdigkeiten der Welt darstelt. Nur vermittelst dieses Spiegels sieht die Seele die Körper ausser sich. Was sein Licht nicht auf dieses Spiegel wirft, davon weiß sie nichts. Diese Spiegel der menschlichen Seelen können sehr arm bleiben, sie können aber auch eine unglaubliche Menge Bilder aufnehmen. Stellen wir uns zugleich den Spiegel der Seele eines armen Bauern vor und den der Seele von Leibnitz oder Haller: welch einen ausserordentlichen Unterschied bemerken wir da. Auf jenem liegen nur hie und da unordentlich hingestreuet einige armselige Bilder; hier sieht man einen Pflug und einige Kühe und Pferde vorgestelt; da sind des Bauern Frau und Kinder, dort der Gerste, der Roggen, der Hafer abgebildet; hier findet man wieder Gemählde von einer Schaufel, einem Spaten, einem Grützfaß u.s.f. Mit dem größten Erstaunen wenden wir von da unsern Blick auf die Spiegel von Leibnitz und Hallers Seelen. Wir sehen hier viele Millionen Bilder, viele tausend von der größten Schönheit, und alles ist auf das geschmackvolleste geordnet. Die Vorzüge, welche Leibnitz und Haller ihren Seelenspiegeln verschaften, waren indeß nicht ganz ihr Werk. Mit einem ungleich weniger glücklichen Erfolge würden ihre grossen Geister gearbeitet haben, hätten nicht ihre Vorfahren ihnen so grosse Ideenschätze hinterlassen, aus denen sie nur für sich auswählen durften, hätte nicht der Nachlaß ihrer Vorfahren schon früh ihre Beobachtung geschärft und gelenkt, ihren Verstand und ihre Vernunft geübt, verfeinert und gestärkt. Wenn viele Geschlechter ihre Geisteskräfte vereinigen, dann werden die Seelenspiegel immer bilderreicher und schöner.

 

Der Vorrath von Vorstellungen, den ein Geist hat, macht seine Welt aus. Je reicher dieser Vorrath, je wichtiger die Vorstellungen, und je besser sie an einander gereihet sind, je grösser und schöner ist auch die Welt, welche ein Geist bewohnt. In wie verschiedenen Welten leben demnach die verschiedenen Menschenseelen! O Aristoteles, wie groß war die Welt, welche dein Geist beherschte! O Plato, wie schön war die Welt, über die dein Geist den Zepter führte! Armer Lastträger, wie armselig ist die Welt, welche deine Seele bewohnt! Sie übertrift wohl das Gebiet der Seele der Käsemilbe bei weitem nicht so viel, als sie selbst übertroffen wird von der Welt der Seele des Leibnitz. Arme Männerseele, die du fast ganz erfült wirst von den Ideen der Speise und des Tranks, von den Ideen eines Kleides, eines Jagdhundes, eines Pferdes und einer erkauften schmacklosen Gunstbezeugung eines feilen Weibes; arme Weiberseele, die du dich jeden Tag um die armseligen Ideen eines Stück Tafts, eines Bandes, eines Huts u.s.f. drehest: arme Seelen, ihr seid wohl beinahe eben so arm am Ende eures Erdenwandels, als ihr beim Antrit desselben waret! Wenn mehrere Menschen, wenn mehrere Generazionen von Menschen ihre Seelenkräfte gemeinschaftlich anstrengen: da werden die Welten der menschlichen Geister immer grösser und schöner; da erhalten die ödesten Gegenden Kultur, die dürren Wüsten werden bewohnt, überal verbreitet sich Leben und Thätigkeit, da werden Welten für die menschlichen Seelen hervorgebracht, die denen nahe kommen, welche die unsterblichen Götter bewohnen.

 

Vermöge ihres Umlaufs erhalten unsere Ideen eine ewige Dauer auf dem Erdboden. Nichts geht hier verlohren. Kein Stäubgen verschwindet in der materiellen Welt. Unsere Körper gehen nach Jahren wieder unter, sie zerfallen wieder zu dem Staub, woraus sie entstanden sind; aber aus diesem Staube entstehen wieder neue Körper. Auch keine Idee geht hier verlohren. Die Ideen werden nur von Zeit zu Zeit in andere Boden verpflanzet. Stirbt ein gelehrter Mann, so sterben seine Begriffe nicht mit. Sie spriessen wieder hervor in andern Geistern. Wohl dem Staate, in dem nicht kalter Nebel, Frost und Ungewitter die jungen geistigen Pflanzen zerstöhren, ehe sie noch zur Blüthe kommen; wohl dem Staate, dessen Klima die Gärten der Seele begünstigt; in ihm wachsen die Pflanzen der Geister schnel an, vermehren sich im grossen Maasse, tragen schöne Früchte, geben reiche Erndten.

 


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